Frau Hauser, unter dem Decknamen „Operation Platinum“ haben Anfang Mai 2021 insgesamt 800 Polizeibeamte 87 Wohn- und Geschäftsräume in Deutschland und Italien durchkämmt und Wertsachen in Höhe von insgesamt sechs Millionen Euro beschlagnahmt, die im Zusammenhang mit der kalabresischen Mafia ‚Ndrangheta stehen sollen – der SÜDKURIER berichtete ausführlich. 80 Personen gelten als Verdächtige, 33 Haftbefehle wurden erlassen. Wie schwer wiegt der Schlag wirklich, den die Behörden der ‚Ndrangheta in Deutschland und Italien versetzt haben?

Für die betroffenen Clans wiegt der Schlag schwer, aber nicht für die Organisation insgesamt. Die Operation war sehr wichtig, aber eine alleine löst das Problem nicht wirklich. Die Behörden müssen nachhaltig dran bleiben. Wir sprechen hier von Zellen, die seit den 70er- oder 80er-Jahren in Deutschland tätig sind. Die ‚Ndrangheta ist eine Mafia, die so aufgebaut ist, dass die unterschiedlichen Clans und Zellen miteinander gleichzeitig kooperieren und konkurrieren.

Wenn eine Zelle zerstört wird und die Leute festgenommen werden, steht im Zweifelsfall ein anderer Clan bereit und übernimmt das Geschäft. Die Bundesregierung schätzt, dass es in Deutschland 18 bis 20 sogenannte Locale, die aus mehreren zusammengeschlossenen Clans bestehen, sowie 800 bis 1000 mutmaßliche Mitglieder der ‚Ndrangheta gibt. Die Zahlen des Bundeskriminalamtes sind da viel begrenzter, es geht von rund 350 Mitgliedern aus.

Der Schwerpunkt der Durchsuchungen in Deutschland lag rund um den Bodensee, unter anderem in Überlingen und Radolfzell, wie der SÜDKURIER berichtete. Warum ist gerade diese Region ein bevorzugtes Betätigungsfeld der ‚Ndrangheta und seit wann?

Wir sehen Strukturen der ‚Ndrangheta auf beiden Seiten des Bodensees in Deutschland und der Schweiz mindestens seit den 80er-Jahren. Warum gerade der Bodenseeraum stärker betroffen ist, darum kümmere ich mich auch in meiner Doktorarbeit, aber die Antwort ist kompliziert.

Die ‚Ndrangheta ist weltweit aktiv, zum Beispiel auch in Australien oder Kanada, aber das ist kein Kolonialisierungsversuch. Es ist eher so, dass, wenn ein Clan in Kalabrien Probleme hat, zum Beispiel ein Krieg zwischen zwei Mafiafamilien, oder die Polizei stark vorgeht, dann macht es Sinn, für einzelne Leute untertauchen. Und wie bei normalen Menschen auch, gehen sie dorthin, wo sie schon jemanden kennen, der ihnen helfen kann, wo sie Unterstützung und ein Netzwerk haben.

Bei der Pressekonferenz der Turiner Staatsanwaltschaft wurde auch ein Luftbild von Überlingen gezeigt, wo einer der Schwerpunkte der ...
Bei der Pressekonferenz der Turiner Staatsanwaltschaft wurde auch ein Luftbild von Überlingen gezeigt, wo einer der Schwerpunkte der Anti-Mafia-Razzien lag. | Bild: Youtube/Telemia

Baden-Württemberg hat innerhalb Deutschlands die größte italienische Gemeinde (etwa 170.000 Italiener leben laut der Bundeszentrale für Politische Bildung im Südwesten, Anm. d. Red.). Auch weltweit betrachtet hat Baden-Württemberg eine der größten italienischen Gemeinden. ‚Ndrangheta-Strukturen nisten sich langsam in die Gesellschaft und Wirtschaft ein. Dann kommt es auch darauf an, ob in einem Land überhaupt Ermittlungen gegen die Mafia geführt werden und ob man das Phänomen überhaupt versteht.

Sehr lange haben die Behörden in Deutschland da wenig hingeschaut. Kriminelle Strukturen finden das ideal, wenn sie nicht nur von den Behörden, sondern auch von der Gesellschaft nicht wahrgenommen werden. Nach Duisburg 2007 (sechs Menschen wurden in einem Streit zwischen zwei verfeindeten ‚Ndrangheta-Familien vor einen italienischen Restaurant in Duisburg erschossen) hat man begonnen, das aufzuarbeiten. Aber seit den 70er-Jahren war viel Zeit, dass sich diese Strukturen entwickelt haben.

Auch mehrere italienische Gastwirte, die schon seit vielen Jahren in Deutschland leben und italienische Restaurants in Überlingen, Radolfzell und Baden-Baden betreiben, sind unter den 80 Beschuldigten der eingangs erwähnten Operation Platinum. Auch von Singen hört man immer wieder als Mafia-Hochburg, ist das so?

Ja, in Singen gab es lange Zeit einen Clan, zu dem die Polizei auch ausführlich ermittelt hat. Es ging zu dieser Zeit um einer Auseinandersetzung zwischen mutmaßlichen ‘Ndrangheta-Zellen rund um den ganzen Bodensee, inklusive der Schweiz. Das macht die Ermittlungen natürlich schwierig. Die Zelle in Singen scheint aber heute nicht mehr wirklich aktiv zu sein, was sich allerdings jederzeit ändern kann.

Von deutschen Behördenvertretern ist zu hören, dass nicht alle, aber viele italienische Restaurants in Deutschland mit der Mafia zusammenarbeiten sollen. Ist das so?

Man muss unterscheiden zwischen jenen, die freiwillig Teil des Mafianetzwerkes sind, und jenen, die gezwungen werden, beispielsweise Weine bei der Mafia zu kaufen. Ich glaube nicht, dass die Mehrheit der italienischen Restaurants in Deutschland mit der Mafia zusammenarbeitet. Es gibt unglaublich viele italienische Restaurants in Deutschland in jeder Klein- und Großstadt.

Ich würde sagen, es ist eine Minderheit. Das bedeutet aber nicht, dass das Problem nicht da ist. Das ist wie mit Terroristen. Sie sind nur ein verschwindend geringer Anteil an der Bevölkerung, aber die Konsequenzen sind für die ganze Gesellschaft da. Mit der Mafia ist es ähnlich.

Rocco Morabito bei seiner ersten Verhaftung 2018, er brach 2019 aus einem Gefängnis in Uruguay aus.
Rocco Morabito bei seiner ersten Verhaftung 2018, er brach 2019 aus einem Gefängnis in Uruguay aus. | Bild: AFP PHOTO / Uruguay's Interior Ministry

Am 24. Mai wurde Rocco Morabito, der meistgesuchte Kopf der ‚Ndrangheta, in Brasilien festgenommen. Laut Staatsanwaltschaft Konstanz gibt es keine Hinweise, dass die Operation Platinum in Italien und Deutschland zu seiner Festnahme beigetragen habe. Wie beurteilen Sie seine Rolle?

Er war eine zentrale Figur der ‚Ndrangheta, weil er die Kokaindeals organisiert hat, und wurde schon seit 17 Jahren gesucht. Kokain wird zwar nicht in Brasilien produziert, aber es ist eines der wichtigsten Länder, in denen Kokain in Containern unter Bananen oder anderen Gütern versteckt wird und über die großen Eingangshäfen Rotterdam und Antwerpen per Schiff nach Europa kommt. Auch Hamburg soll eine große Rolle spielen.

Die kriminelle Organisation weiß, welcher Container aus 500 in einem großen Schiff Kokain versteckt hält. Dafür müssen sie sehr gute Kontakte im Hafen haben. Dann fließt das Kokain per Lkw und Pkw in den Süden und bleibt in Deutschland hängen oder geht weiter.

Rocco Morabito bei seiner Verhaftung am 24. Mai 2021 in Brasilien.
Rocco Morabito bei seiner Verhaftung am 24. Mai 2021 in Brasilien. | Bild: EVARISTO SA/AFP

Aus verlässlicher Quelle haben wir erfahren, dass ein mutmaßlicher Mafiosi, der überwacht wurde, seinem Kollegen folgenden Rat mit auf den Weg gegeben hat: „Du musst nach Deutschland kommen, da passiert dir nichts.“ Sind die Gesetze in der Bundesrepublik zu lasch gegen das organisierte Verbrechen?

Ja, ich glaube es gibt Bedarf für eine Gesetzesänderung, das heißt aber nicht unbedingt Strafen zu verschärfen. Es geht darum, den Behörden die Mittel zu geben, Fälle aufzuklären. Zum Beispiel die Möglichkeiten für Behörden, bei Geldwäsche zu ermitteln, sind sehr beschränkt, sie sehen nicht was los. Die Transparenz ist nicht gegeben, es gibt stille Gesellschafter, man weiß nicht wirklich, wem die Firma gehört. Die Finanzbehörden haben nicht genug Leute, sie hinken ganz vielen Fällen hinterher, die nicht bearbeitet werden.

Außerdem gibt es kein Bargeldlimit in Deutschland – da können Sie sich vorstellen, wie günstig das ist für Kriminelle zu investieren. Und Steuerinformationen sind sehr geschützt. Da kann die Polizei nur daran, wenn es wirklich Bedarf gibt. Dann gibt es professionelle Berufe wie Notare und Buchhalter, die teilweise die Mafia unterstützen und die nicht genügend kontrolliert werden. All diese Aspekte zusammen bedeuten, dass die Behörden nur einen kleinen Teil sehen, wenn es zu Geldwäsche kommt.

Italienische Staatsanwälte sollen sich regelmäßig über die eingeschränkten Ermittlungsmöglichkeiten ihrer deutschen Kollegen wundern?

Ja, das ist absolut der Fall, gerade bei Lauschangriffen und Überwachungen haben die Italiener viel mehr Möglichkeiten. Die Beschränkungen in Deutschland hingegen bedeuten, das man kein klares Bild hat. Das kann gefährlich sein. Dabei geht es aber nicht nur um italienische organisierte Kriminalität, sondern auch beispielsweise um die russische und deutsche.

Baden-Württemberg hat hier eine bessere Leistung geschafft als andere Bundesländer, aber man ist gesetzlich beschränkt. Persönlich halte ich es für problematisch, dass die Behörden sehr viele Probleme haben, über die Mafia zu sprechen. Wenn die Behörden selbst nicht von der Präsenz dieser Strukturen sprechen, dann kann man auch nicht von der Gesellschaft erwarteten, dass sie das ernst nimmt.

Gemeinsame Pressekonferenz der Staatsanwaltschaften Turin und Konstanz sowie der Kripo Friedrichshafen: Rolf Merk, stv. Leiter der ...
Gemeinsame Pressekonferenz der Staatsanwaltschaften Turin und Konstanz sowie der Kripo Friedrichshafen: Rolf Merk, stv. Leiter der Kriminalinspektion für Betäubungsmittel und organisierte Kriminalität in Friedrichshafen, Dr. Johannes-Georg Roth, Leitender Oberstaatsanwalt Konstanz, sowie stv. Leiter der Kriminalpolizei Friedrichshafen Michael Schrimpf (von links) | Bild: DIA - Direzione Investigativa Antimafia

Ist hier nicht auch die Politik gefordert?

Ja, ich sehe auch die Politik in der Pflicht, entschiedener gegen die Mafia vorzugehen. Aber es ist ein Teufelskreis: Die Politik antwortet auf die Gesellschaft. Doch die Mafia ist ein Phänomen, das nicht laut und deutlich ist. Ressourcen werden nicht gegeben, Behörden können nicht entschieden ermitteln.

Das hat die italienische Mafia gut verstanden. Als sie in den 80er-Jahren neu im Land war, gab es viel mehr Drogen- und Waffenhandel auf der Straße. Gegen diese Personen, die manchmal Teil von Mafiaorganisationen waren, wurde vorgegangen. Davon hat die ‚Ndrangheta gelernt. Ihr Bewusstsein ist, dass wenn man in Deutschland gewisse Geschäfte nicht macht und zurückhaltend agiert, man kein Problem hat.