Obwohl der Wald kühlt und die Baumkronen die Julisonne abhalten, ist es drückend heiß. Schwüle 30 Grad lassen den Schweiß in Strömen rinnen. Trinken, trinken, trinken. Die Wasservorräte gehen zur Neige. Bis zum angepeilten Lagerplatz sind es noch gut zwei Stunden. Irgendwo muss doch die Quelle sein, nach der wir fahnden. Der Bach ist als dünne blaue Linie auf der Karte verzeichnet. Das Problem: Die Karte kennt die zahllosen Holz- und Rückpfade nicht, die von unserem Weg immer wieder abzweigen. Da hilft auch der Kompass wenig.

Plätschert es da nicht irgendwo im Unterholz? Oder ist es nur Waldrauschen? Unter Farnen glitzert zumindest ein wenig Wasser. Doch wo ist der Bach?

Gut versteckt unter Farnen: Hier gibt es Wasser.
Gut versteckt unter Farnen: Hier gibt es Wasser. | Bild: Bäuerlein,Ulrike

Es geht einen zugewachsenen Pfad entlang durch trockenes Bruchholz zu einer Lichtung. Die Brennnesseln wachsen brusthoch, Brombeerranken und Bremsen beißen sich an uns fest. Da vorn bricht der Waldhang steil ab, es geht nicht weiter. Zurück.

Seit dem Nachmittag sind wir in den Wäldern oberhalb von Gaggenau-Michelbach unterwegs. Wir, das sind der Freiburger Wildnisführer Christian Pruy und ich, die als Korrespondentin vor zwei Wochen vor Ort über die fünftägige Flucht von Yves Rausch in den Wäldern von Oppenau berichtet hat.

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Wie viele andere Menschen fragte ich mich: Wie kann es sein, dass sich ein einzelner Mann auf einer Fläche von rund acht Quadratkilometern fünf Tage lang verstecken konnte, obwohl über 2000 Einsatzkräfte nach ihm fahndeten? Wie muss man sich das im Wald vorstellen? Wir sind keine 50 Kilometer nördlich davon unterwegs.

Überlebenstechniken für den Wald sind gerade wieder stark im Trend

Yves Rausch ist ein Waffennarr, der sich gern mit Pfeil und Bogen durch den Wald bewegte und sich wohl als eine Art Waldläufer sah. Der Wald sei sein Wohnzimmer, dort fühle er sich sicher und wohl, so die Einschätzung der Polizei.

Mit diesem Outdoor-Faible steht der Täter von Oppenau nicht alleine da. Die sogenannte Bushcraft-Szene wächst seit Jahren, immer mehr Menschen wollen das alte Überlebenshandwerk für sich wiederentdecken, draußen in der Natur alleine zurechtzukommen – wenigstens für ein paar Stunden oder Tage. Was treibt die Menschen hinaus, was finden sie vor? Dieser Frage wollen wir nachgehen.

Wildnisführer Christian Pruy.
Wildnisführer Christian Pruy. | Bild: Bäuerlein, Ulrike

„Jeder hat einen anderen Antrieb“, sagt Pruy. „Für mich lautet er: Mich mit mir selbst in der Natur beschäftigen. Im Idealfall habe ich nichts dabei und finde alles“, sagt er. Pruy hat seine Leidenschaft fürs Draußensein zum Beruf gemacht, gemeinsam mit zwei Partnern bietet er mit der Agentur „Waldwärts“ Naturerlebnisse und Workshops in Natur und Wald an.

Schlafsack, Isomatte, Regenponcho, Hängematte und etwas Proviant

„Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass es einfach ist da draußen. Bushcraft ist eigentlich eine Metapher für alle anderen Dinge, die man im Leben erreichen will“, sagt er. „Man muss etwas lernen und immer wieder üben. Und dann muss man dranbleiben, damit man lernt, das Wissen auch zu benutzen.“ Hier oben in Michelbach hat der Überlebenstrainer vor kurzem ein Waldstück erworben, um es für Kursangebote nutzen zu können. Wir wollen Wasserquellen in der Umgebung suchen, haben Rucksäcke mit dem Nötigsten dabei, um die Nacht im Wald zuzubringen, Schlafsack, Isomatte, Hängematte, einen Poncho als Regenschutz und ein wenig Proviant.

Pruy ist nicht nur zertifizierter Wildnisführer, sondern auch Pilzcoach und Pflanzenkundler. Pilze sehen wir keine, aber auf Schritt und Tritt stoßen wir auf das Superfood der Natur schlechthin. „Gibt es praktisch überall“, sagt Pruy und zieht die kleinen Samenkapseln von den Brennnesseln.

Superfood aus der Natur: Brennnesselsamen.
Superfood aus der Natur: Brennnesselsamen. | Bild: Bäuerlein, Ulrike

100 Gramm davon haben etwa 300 Kalorien, die Samen sind eine Proteinbombe, enthalten Kohlehydrate, Öle, Vitamine und Mineralien wie Kalium, Eisen und Kalzium. Sie schmecken nussig, füllen im Vorbeigehen die Energiespeicher auf, geröstet sind sie eine Leckerei.

Mühsames Sammeln, aber lohnend und lecker.
Mühsames Sammeln, aber lohnend und lecker. | Bild: Bäuerlein, Ulrike

„Wenn ich Nahrung suche, suche ich Früchte und Wurzeln, da Pflanzen, wenn, dann hier Energie speichern. Es gibt auch Wurzeln, mit denen sich sich nicht viel anfangen lässt. Man muss nur genau wissen, was man verwendet“, sagt der Outdoor-Experte.

Ein idealer Ort, um sich zu verstecken

Der Mischwald hier wird kaum bewirtschaftet, die Hänge sind steil, von Felsen durchzogen, Tot- und Bruchholz liegen wie riesige Mikadostäbchen kreuz und quer, dazwischen schieben sich junge Stämme mit frischem Grün nach oben, am Boden breitet sich Gestrüpp und dichtes Buschwerk aus. Konturen verschwimmen im Wechselspiel von Lichtreflexen und dunklem Schatten.

Suchbild mit Wildnisguide: Nur 20 Meter den Hang hinauf ist Christian Pruy kaum noch zu erkennen.
Suchbild mit Wildnisguide: Nur 20 Meter den Hang hinauf ist Christian Pruy kaum noch zu erkennen. | Bild: Bäuerlein,Ulrike

Pruy klettert ein Stück den Hang hinauf, schon nach wenigen Metern verschluckt ihn trotz Tageslicht der Wald. Wenn jemand nicht gefunden werden will, dann ist das Gelände hier dafür ideal.

Am Hang findet sich eine Felsnische, in die sich ein Mensch kauern könnte. Als Versteck nur zu erkennen, wenn man direkt davor steht. Davon gibt es unzählige in den Waldhängen. Ein geeigneter Unterschlupf?

Ein möglicher Unterschlupf?
Ein möglicher Unterschlupf? | Bild: Bäuerlein,Ulrike

„Erdlöcher isolieren nicht, und im Wald ist der Boden auch im Sommer kühl und feucht“, sagt Wildnisführer Pruy. Wer friert, verliert Energie und Leistungsfähigkeit und am Ende auch mentale Stärke und Mut, was entscheidender für das Durchhaltevermögen ist als Nahrung.

Dieses Erdloch ist groß genug, um sich hinzukauern – mehr aber auch nicht.
Dieses Erdloch ist groß genug, um sich hinzukauern – mehr aber auch nicht. | Bild: Bäuerlein,Ulrike

„Man könnte als Isolation Laub hineinschaufeln gegen die Bodenkälte. Die Frage ist: Kommt tagsüber Sonne hin? Sonst bleibt es ein kaltes Loch.“ Aber wer Trinkwasser habe, eine Isolation gegen die Kälte und ein Dach, um sich trocken zu halten und vor Bodennässe zu schützen, sagt Pruy, „der kann es im Wald sehr lange aushalten.“

Endlich haben wir Wasser tief unten an einem unzugänglichen Steilhang entdeckt. Laut verwitterter Hinweistafel ein alter Brunnen, aber der Hang hinunter fehlt. Pruy schlägt sich durchs Dickicht und Brombeerranken durch Absturzgelände, um die Flaschen zu füllen, und kämpft sich mühsam wieder nach oben.

Endlich Wasser Video: Bäuerlein, Ulrike

Das Wasser ist kühl und köstlich, plätschert direkt aus dem Gestein. Im Dunklen in ein solches Gelände absteigen, um Wasser zu suchen? Schwer vorstellbar.

Es ist schon halb neun, als wir das Zielwaldstück erreichen und unter einer großen Eiche auf fast ebenem Platz ein unauffälliges Lager aufschlagen. Äste dienen als Halt für den abgespannten Tarpponcho, eine Zeltplane, die auch als Poncho verwendet werden kann und gegen den vorhergesagten Regen schützen soll.

Isolation und Regenschutz – Tarpponcho und Isomatte für die Nacht.
Isolation und Regenschutz – Tarpponcho und Isomatte für die Nacht. | Bild: Bäuerlein,Ulrike

Der Wildnisführer hängt seine Hängematte an einen dicken Ast, am Morgen werden ihn Regentropfen im Gesicht wecken.

Keine Spuren hinterlassen

Ein Feuer ist tabu, der Wald ist viel zu trocken. Aber nicht nur deshalb: Wilde Feuerstellen hinterlassen Narben in der Natur, die noch jahrelang zu sehen sind. „Bushcraften in Deutschland heißt für mich vor allem auch, die Regeln zu befolgen“, sagt Pruy. Das Motto „LNT“ – leave no trace, hinterlasse keine Spuren – gilt zwar als Kodex der Bushcraft- und Outdoor-Community. Aber manche daraus sehen sich in ihrer Selbstsicht als einsame, selbstbestimmte Waldläufer nicht an Wald- und Naturschutzgesetze gebunden. „Die Gebiete machen gerade vier Prozent unserer Landesfläche aus, und Naturschutzgebiete heißen so, weil die Natur vor dem Menschen geschützt werden muss“, sagt Pruy.

Ein Grabstock mit Spitze und breiter Schaufel ist im Wald ein extrem nützliches Werkzeug.
Ein Grabstock mit Spitze und breiter Schaufel ist im Wald ein extrem nützliches Werkzeug. | Bild: Bäuerlein,Ulrike

Er hat neben dem Lager eine Nelkenwurz entdeckt, die er mit dem Grabstock freilegt, das enthaltende Nelkenöl lässt die feinen Würzelchen duften.

Duftende Nelkenwurz Video: Bäuerlein, Ulrike

Das Abendessen fällt karg aus: eine Handvoll mitgebrachte Nüsse, eine Dose Thunfischsalat, fettig und nahrhaft. Christian hat einen Luxusartikel mitgeschleppt: Eine kleine Mokkakanne und Kaffee. Hungrig sind wir nicht. Unterwegs gab es immer wieder eine Handvoll saftiger Brombeeren und Brennnesselsamen, dazu als Glücksfund eine rote Mirabelle.

Unverhoffte Leckerei: Eine wilde rote Mirabelle.
Unverhoffte Leckerei: Eine wilde rote Mirabelle. | Bild: Bäuerlein,Ulrike

Vor allem aber haben wir genug Trinkwasser. „Jetzt, zu dieser Jahreszeit bis zum Herbst findet man am meisten Nahrung im Wald“, sagt Pruy. Das finden auf ihre Art auch die Mücken, die in der Nacht über uns herfallen. Waldromantik geht definitiv anders.

Lagerplatz am morgen – der abgespannte Poncho hat die Regentropfen abgehalten.
Lagerplatz am morgen – der abgespannte Poncho hat die Regentropfen abgehalten. | Bild: Bäuerlein,Ulrike

Am frühen Morgen gibt es zum Luxus-Kaffee noch eine Übung aus dem Bushcraft-Handwerk. Aus den langen Fasern kräftiger Brennnesselstiele flechten wir eine Schnur, die so stabil ist, dass man unsere Rucksäcke dran hängen kann.

Eine Brennesselschnur flechten Video: Bäuerlein, Ulrike
Die Brennnesselschnur hält den Rucksack problemlos.
Die Brennnesselschnur hält den Rucksack problemlos. | Bild: Bäuerlein,Ulrike

Eine langwierige, meditative Beschäftigung, bei der Pruy eine positive Bilanz der Unternehmung zieht. „Wir haben trinkbares, sehr gutes Wasser gefunden, das schwer zugänglich war. Wir haben essbare Pflanzen und Früchte gefunden. Wir haben einen guten Lagerplatz gefunden“, zählt er auf. Ums Überleben ging es uns freilich nicht.

Nichts für Amateure

Dennoch: Als wir aufbrechen und zurück nach Michelbach laufen, haben sich zumindest für mich einige der vielen Fragen rund um die Umstände von Flucht und Fahndung in Oppenau beantwortet. Und der Profi-Waldläufer sagt: „Ich habe mich mit dem Fall nicht befasst und möchte mich auch nicht dazu äußern. Aber unter diesen Umständen so lange draußen durchzuhalten, dazu gehört schon etwas.“