37 Tote. 654 Neuinfektionen. Das ist die Bilanz der bislang schlimmsten Woche für Pflegeheime in Baden-Württemberg seit Beginn der zweiten Welle der Corona-Pandemie. 33 Ausbrüche zählte das Landesgesundheitsamt in jener Woche in Pflege- und Altersheimen. Verschärfte Maßnahmen brachte das Sozialministerium seither aber nicht auf den Weg.

Dabei ist die Bilanz erschreckend. 7733 Bewohner von Pflegeeinrichtungen sind seit Beginn der Pandemie in Baden-Württemberg mit dem Coronavirus infiziert. Zudem haben sich bislang 4583 Mitarbeiter solcher Einrichtungen infiziert.

Die höchste Anzahl von Pflegeheimausbrüchen in der erste Welle wurde Anfang April mit insgesamt 46 Ausbrüchen und 911 Infektionen, woran 171 Menschen starben, registriert. Damals wurden die Besuchsregelungen seitens des Landes massiv eingeschränkt. Die Besuchsverbote waren im Frühjahr umstritten, Angehörige beschwerten sich, die Menschen in den Heimen drohten zu vereinsamen.

Dieter Münzer hätte sie sich dennoch gewünscht. Er ist seit 32 Jahren Heimleiter im Altersheim St. Martin in Donaueschingen. Inzwischen sind 40 Bewohner mit Corona infiziert. Eine Bewohnerin musste ins Krankenhaus deswegen.

Dieter Münzer ist Leiter des Donaueschinger Pflegeheims St. Martin. Er ist mit den Besuchsmöglichkeiten nicht sehr glücklich.
Dieter Münzer ist Leiter des Donaueschinger Pflegeheims St. Martin. Er ist mit den Besuchsmöglichkeiten nicht sehr glücklich. | Bild: Guy Simon

„Die Politik glaubt aus der ersten Welle im Frühjahr gelernt zu haben und mit gewissen Vorkehrungen die Altersheime für Besucher offen halten zu können“, schimpft der 64-Jährige. Das aber funktioniere in der Praxis mehr schlecht als recht. Besucher kämen zwar mit Atemschutzmaske das Heim betreten, bei dem Bewohner legten sie die Maske dann aber ab oder nähmen sich zum Abschied herzlich in die Arme.

„Die Gesellschaft hat sich zu sicher gefühlt“, folgert er. Auch in anderen Pflegeheimen im Schwarzwald-Baar-Kreis schrillen die Alarmglocken. Gerade schloss ein Pflegeheim in Villingen für Besucher seine Pforten, nachdem 25 Bewohner und 13 Mitarbeiter positiv getestet wurden, vier Menschen starben mit oder an den Folgen der Infektion.

Das sagen die Zahlen

Allerdings ist die Inzidenz im Schwarzwald-Baar-Kreis mit 195,3 auch besonders hoch. Die Zahl gibt die Anzahl von Neuinfektionen in den vergangenen sieben Tagen pro 100.000 Einwohner an. Im Kreis Tuttlingen liegt die Inzidenz ähnlich hoch mit 192,5. Münzers Angestellte kommen zum Großteil aus den beiden Kreisen.

Wie viele Menschen in Heimen im Schwarzwald-Baar-Kreis verstarben, kann der Kreis aktuell nicht beantworten. Die Sprecherin entschuldigt sich – das Landratsamt arbeite am Anschlag. Doch die öffentlich zugängliche Statistik zeigt, dass die Todesfälle vor allem bei Menschen über 76 Jahren auftraten. Insgesamt starben bislang 59 Menschen an den Folgen einer Coronainfektion.

Im Kreis Tuttlingen sind bislang 48 Menschen an oder mit dem Virus gestorben. Noch vor einer Woche waren es nach Angaben des Kreises 40 Todesfälle, davon neun in Pflegeheimen.

Im Kreis Waldshut liegt die Inzidenz derzeit ähnlich hoch mit 183,5 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner. Insgesamt starben 53 Menschen mit oder an den Folgen einer Corona-Infektionen, davon 17 in Pflegeheimen und wiederum zwölf davon während der zweiten Welle. Aktuell sind nach Angaben des Kreises 60 Heimbewohner und 11 Mitarbeiter infiziert in den Pflegeheimen im Kreis.

Eine Altenpflegerin hält im Seniorenheim Pauline-Krone-Heim der Altenhilfe Tübingen einen Antigen-Corona-Schnelltest in der Hand. Im ...
Eine Altenpflegerin hält im Seniorenheim Pauline-Krone-Heim der Altenhilfe Tübingen einen Antigen-Corona-Schnelltest in der Hand. Im Hintergrund sitzt eine Bewohnerin. | Bild: Sebastian Gollnow, dpa

Im Kreis Sigmaringen liegt die Inzidenz aktuell bei 68,8. Der Landkreis zählt bislang insgesamt 39 Verstorbene, eine gesonderte Zahl für Todesfälle in Pflegeheimen nennt der Kreis auf Anfrage nicht. „Auf Kreisebene betrachtet ist der Zahlenraum einfach auch so gering, dass ein Vergleich mit anderen Kreisen hier mehr auf einem Zufall denn auf einem Trend beruht“, erklärt Sprecher Tobias Kolbeck.

In Konstanz liegt die Inzidenz derzeit bei 102,7 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner. Im Kreis waren 26 von insgesamt 50 Verstorbenen Bewohner von Pflegeheimen. 22 der Todesfälle in Pflegeheimen entfallen auf die zweite Welle. „Es ist aber einschränkend zu sagen, dass ein Teil nicht an, sondern mit Corona verstorben ist, weil die Personen schon sehr krank waren“, betont Sprecherin Marlene Pellhammer. Von den 420 derzeit Infizierten wohnen den Angaben des Gesundheitsamts zufolge 67 in Pflegeheimen.

Im Bodenseekreis liegt die Inzidenz mit 83,2 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner deutlich unter den Zahlen in der Region. Nur zwei der insgesamt 13 Todesopfer seit Beginn der Pandemie lebte in einem Pflegeheim. Seit Juni seien lediglich 14 Menschen aus Alten- und Pflegeheimen positiv auf Corona getestet worden, sagt Sprecher Robert Schwarz.

Personal wird knapp

Die steigenden Neuinfektionen in Heimen könnten aber auch auf das Personal zurückzuführen sein. Die hohe Zahl infizierter Mitarbeiter in der Pandemie deutet darauf hin – doch nicht immer lässt sich rekonstruieren, wo sich ein Mitarbeiter infiziert hat, im Heim oder draußen. Zwar werden ständig Antigenschnelltests gemacht, eine zusätzliche personelle Herausforderung, die die Heime managen müssen. Doch die Tests sind nicht so sensibel wie die aufwendigeren PCR-Tests, beklagt Heimleiter Münzer.

Und: Wer Kinder hat, die unter Quarantäne stehen, muss eigentlich auch selbst in Quarantäne. Doch wer in einem systemrelevanten Beruf wie der Pflege arbeitet, kann trotzdem arbeiten. Zumindest, wenn ein negativer Test vorliegt. Doch auch hier sind Fehlergebnisse nicht ausgeschlossen.

Münzer sagt, er sei personaltechnisch an den Grenzen des Machbaren – trotz Zeitarbeitsfirmen und Zusatzschichten. Wenn jetzt noch zusätzlich Mitarbeiter wegen Corona-Infektionen ausfallen, könne die Pflege der Bewohner nicht mehr gewährleistet werden, warnt er.

Eine Altenpflegerin in Schutzausrüstung hält die Hand eines Heimbewohners.
Eine Altenpflegerin in Schutzausrüstung hält die Hand eines Heimbewohners. | Bild: Symbolbild: Gollnow/dpa

Hilfe von anderen Stellen ist praktisch ausgeschlossen. Die Pflegekräfte in den Krankenhäusern sind ausgelastet, andere Heime stecken in ähnlichen Situationen. Das bestätigt auch der Vorstandsvorsitzende des Caritasverbands im Schwarzwald-Baar-Kreis, Michael Stöffelmaier: „Wir arbeiten derzeit am Limit.“

„Wenn die Politik die Heime partout offen halten möchte, dann zahlen wir jetzt den Preis“, fürchtet Münzer. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er schon vor fünf Wochen ein Besuchsverbot ausgesprochen. Er ist davon überzeugt, dass die Infektionen über Besucher ins Haus kamen.

Der Kreis entschied zum Ende der Woche, den Besuch in Krankenhäusern, Pflege-, Behinderten- und Rehabilitationseinrichtungen nur nach vorherigem negativen Antigentest oder mit FFP2-Maske zu erlauben. Besuchsverbote aber bleiben aus.

Rechtlich schwierig, Besuche zu verbieten

Doch die Rechtslage ist schwierig. Ein Gutachten zu Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen im Auftrag der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen stellt die Maßnahmen vom Frühjahr juristisch in Frage.

Friedhelm Hufen, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Mainz, hält die Beschränkungen demnach für verfassungswidrig. „Auch die Steigerung der Infektionszahlen und Ausbrüche in einzelnen Einrichtungen dürfen nicht zu erneuter verfassungswidriger Isolation von Heimbewohnern führen“, mahnt er.

Zudem hegt er Zweifel am Nutzen von Besuchsverboten. So gingen Infektionen neuen Untersuchungen zufolge „wesentlich weniger von besuchenden Angehörigen als vom uneingeschränkt zugangsberechtigten Personal, von Hilfskräften und Lieferanten aus“.

Sozialministerium verteidigt Offenhaltung

Das Sozialministerium sieht das ähnlich. Dort heißt es auf Anfrage, dass es „keine belastbaren Erkenntnisse“ gebe, „dass die Ausbrüche in Pflegeheimen in erster Linie auf Besucher zurückgehen“. Vielmehr zeige die Auswertung der Infektionsquellen, dass in vielen Fällen das Virus durch Beschäftigte in die Einrichtungen getragen worden sei, wie Sprecherin Claudia Krüger erklärt.

Zudem sei es trotz höherer Infektionszahlen im Vergleich zum Frühjahr im Verhältnis zu weniger Ausbrüchen in Pflegeheimen gekommen. Das Landesgesundheitsamt bestätigt auf Nachfrage: Derzeit seien etwa ein Drittel weniger Ausbrüche als im Vergleichszeitraum des Frühjahrs zu verzeichnen.

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Besuchsverbote gingen zulasten der Selbstbestimmung und sozialen Teilhabe der Heimbewohner, fügt die Sprecherin hinzu. Solche Verbote hält das Ministerium ob der verbesserten Schutzmöglichkeiten wie Schutzkleidung und Antigentests für verfassungsrechtlich nicht zulässig.

Doch gerade die Schutzausrüstung wird mancherorts schon wieder knapp: Heimleiter Münzer sagt, es gebe zwar genug FFP2-Masken, doch die Einweg-Schutzkittel, die die Angestellten zusätzlich tragen müssen, gingen langsam aus.

Empfehlungen statt Maßnahmen

Die Landkreise gehen unterschiedlich mit der Pandemielage um. Im Kreis Waldshut hat das Landratsamt als Heimaufsicht den Heimen empfohlen, die Besuchsboxen oder Besuchszimmer mit Trennwand, wie sie im Frühjahr teilweise eingesetzt wurden, wieder zu reaktivieren.

Zudem sollten nicht nur das Personal, sondern auch Besucher mit FFP2-Masken ausgestattet werden, sagt Sprecherin Susanna Heim dem SÜDKURIER. Zudem wurde demnach eine Task-Force „Hygiene“ gegründet, die die Heime stichprobenartig oder je nach Anlass begehe. Schärfere Maßnahmen lehnt man im Kreis Waldshut ab. „Ein generelles Besuchsverbot wie in der ersten Welle ist nicht mehr zulässig. Dies ist aus unserer Sicht auch richtig so“, sagt Sprecherin Susanna Heim. Denn die Bewohner müssten um eine Isolierung und Vereinsamung geschützt werden.

Im Bodenseekreis seien Pflegeheime bislang dagegen kein „Infektionsschwerpunkt“, erklärt Sprecher Robert Schwarz. Das zeige, dass die Maßnahmen dort ausreichten. Das Landratsamt stehe aber dennoch in regelmäßigem Austausch mit den Trägern der Heime. „Anlassbezogen gibt es auch Kontrollen“, ergänzt Schwarz.

Auch im Kreis Sigmaringen und im Kreis Konstanz gibt es keine Maßnahmen über die Vorgaben des Sozialministeriums hinaus. Sprecherin Pellhammer aus Konstanz sagt: „Die Heime haben uns gegenüber kommuniziert, dass der Maßnahmenspielraum ausreichend ist.“

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