Für das 42-jährige Hauptopfer, das bei der Singener Messerattacke am 14. Dezember 2020 lebensgefährliche Verletzungen erlitten hatte, ist die Sache klar: Seine wiederholten Anzeigen ab dem Jahr 2018 gegen einzelne Mitglieder von Familie A. wegen ihres angeblichen islamistischen Hintergrunds sollen Auslöser für zahlreiche Morddrohungen und letzten Endes den Tötungsversuch gegen ihn mitten in der Singener Südstadt gewesen sein.

Die Attacke und ihre Vorgeschichte Video: Privat/SÜDKURIER

Gegen zwei Mitglieder von Familie A. ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart laut SÜDKURIER-Informationen seit Anfang 2020 wegen Unterstützung beziehungsweise Mitgliedschaft bei der Terrororganisation Islamischer Staat (IS). Ein Abschluss der Ermittlungen wird in den nächsten Monaten erwartet, sagt ein Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft auf Anfrage. Mitglieder von Familie A., mit denen der SÜDKURIER sprechen konnte, weisen einen IS-Hintergrund zurück, sie hätten damit nichts zu tun.

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Das Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft in Stuttgart wurde erst vor kurzem in einem anderen Fall Opfer eines linksextremistischen Farbanschlags, bei dem auch zwei Fenster stark beschädigt wurden (im oberen Bildbereich). | Bild: René Laglstorfer

Sie führen als Auslöser für die blutige Fehde unter anderem an, das Hauptopfer habe sich 35.000 Euro von der Familie ausgeborgt und wolle diese nicht zurückzahlen. Außerdem soll der 42-Jährige, so die Behauptung, ein Nacktbild einer unbekannten Frau in einem sozialen Netzwerk gepostet und behauptet haben, dass es sich dabei um ein weibliches Mitglied von Familie A. handeln würde.

Anklage gegen Hauptopfer

Das Hauptopfer weist beide Vorwürfe entschieden zurück. Laut ihm hätten einzelne Mitglieder der Familie mit einer ausländischen Handynummer eine WhatsApp-Gruppe eröffnet und in seinem Namen das Nacktbild versendet, um ihn zu belasten. „Das ist ihr Spiel, weil sie wissen, dass Frauen bei uns heilig sind. Sie lügen und versuchen die Öffentlichkeit zu manipulieren“, sagt der 42-Jährige. Außerdem gibt er an, er habe sich nie auch nur einen Cent von der Familie ausgeborgt, sondern lediglich von Banken. Die Belege dafür habe er auch der Polizei übermittelt.

Ulrich Gerlach, Oberstaatsanwalt in Konstanz.
Ulrich Gerlach, Oberstaatsanwalt in Konstanz. | Bild: Ulrich Gerlach

Oberstaatsanwalt Ulrich Gerlach bestätigt im SÜDKURIER-Gespräch zahlreiche wechselseitige Anzeigen zwischen den beiden Großfamilien. Mit Ausnahme von einem Fall, in dem die Staatsanwaltschaft Konstanz tatsächlich Anklage gegen das Hauptopfer erhoben hat, hat sie nach intensiver Prüfung alle anderen Ermittlungsverfahren gegen den 42-Jährigen eingestellt, sagt Gerlach.

Tötungsversuch schon am 5. Dezember 2020?

Bei der erhobenen Anklage gegen das Hauptopfer handelt sich um einen Vorfall, der sich wenige Tage vor der Singener Messerattacke unweit des späteren Tatorts Friedrich-Ebert-Platz in der Rielasinger Straße nahe eines orientalischen Restaurants in der Singener Südstadt abspielte. Am 5. Dezember 2020 wollte das Hauptopfer eine Gemüselieferung dort abholen und traf dabei auf das mutmaßliche Oberhaupt (48) der verfeindeten Familie A., der auf Arabisch weitere Familienmitglieder verständigt haben soll, um seinen 42-jährigen Kontrahenten anzugreifen. „Ich habe gehört, wie er das am Telefon sagt. Er wollte mich dann festhalten, ich hab ihn weggeschoben und bin abgehauen. Sie haben schon damals geplant, mich umzubringen“, sagt das Hauptopfer.

Acht Angeklagten, die Mitglieder einer syrischen Großfamilie sind, wird vorgeworfen, in der Südstadt von Singen drei Männer – ...
Acht Angeklagten, die Mitglieder einer syrischen Großfamilie sind, wird vorgeworfen, in der Südstadt von Singen drei Männer – Mitglieder einer anderen syrischen Großfamilie – angegriffen und verletzt zu haben. | Bild: Bernd Weißbrod

Er habe sofort die Kriminalpolizei in Rottweil verständigt und den Vorfall gemeldet. Auch der 48-Jährige, der bei dem Vorfall verletzt wurde und im Krankenhaus behandelt werden musste, dieses aber noch am selben Tag verlassen konnte, rief die Polizei und erstattete Anzeige gegen seinen 42-jährigen Gegner sowie gegen fünf bis sechs weitere Familienmitglieder von ihm wegen Körperverletzung, wie Oberstaatsanwalt Gerlach bestätigt. „Beide haben bei der Polizei angerufen“, sagt Gerlach.

Aufgeheizte Stimmung und Drohungen

Die Ermittlungsverfahren gegen die weiteren Familienmitglieder des späteren Hauptopfers sind laut Staatsanwaltschaft Konstanz eingestellt, weil eine Tatbeteiligung nicht nachweisbar war. Ein Termin für ein mögliches Strafverfahren gegen das 42-jährige Hauptopfer der Singener Messerattacke wegen Körperverletzung steht noch nicht fest, wie das Singener Amtsgericht dem SÜDKURIER auf Anfrage bestätigt.

Das Singener Amtsgericht in der Erzbergerstraße
Das Singener Amtsgericht in der Erzbergerstraße | Bild: Freißmann, Stephan

Videoaufnahmen von Anwohnern kurz nach dem Vorfall am 5. Dezember zeigen ein großes Polizeiaufgebot und eine aufgeheizte Stimmung unter zahlreichen Personen, die wild gestikulieren, offenbar wüste Drohgebärden machen und von Polizisten vereinzelt zurückgehalten werden müssen. Bei den Unruhestiftern soll es sich um Mitglieder von Familie A. handeln. „Binnen weniger Minuten waren zahlreiche Mitglieder der Familie A. anwesend“, sagt Oberstaatsanwalt Gerlach.

„Entführung und Tötung besprochen“

Diese Ansammlung wertet das Hauptopfer als Indiz, dass schon am 5. Dezember – neun Tage vor der Singener Messerattacke – ein Tötungsversuch auf ihn erfolgen hätte sollen. „Die wollten mich da schon kalt machen. Wie können sonst so viele Familienmitglieder aus Meßkirch und Tuttlingen plötzlich vor Ort sein?“, fragt der 42-Jährige.

13.09.2021, Stuttgart: Angeklagte schützen vor Prozessbeginn ihre Gesichter mit Aktenordnern vor Kameras. Acht Angeklagten, die ...
13.09.2021, Stuttgart: Angeklagte schützen vor Prozessbeginn ihre Gesichter mit Aktenordnern vor Kameras. Acht Angeklagten, die Mitglieder einer syrischen Großfamilie sind, wird vorgeworfen, in der Südstadt von Singen drei Männer – Mitglieder einer anderen syrischen Großfamilie – angegriffen und verletzt zu haben. | Bild: Bernd Weißbrod

Laut Anklageschrift haben einzelne Familienmitglieder für die Planung ihrer mutmaßlichen Tat einen Chat eingerichtet und noch am Abend des 5. Dezember einen Angriff erwogen und das spätere Hauptopfer oberserviert. „Es wurde auf eine Gelegenheit gewartet, ihn anzugreifen. Auch eine Entführung und die Möglichkeit, dass das Opfer bei einem Angriff sterben könnte, wurde besprochen, außerdem vereinbart, verklausuliert zu schreiben, um polizeiliche Ermittlungen zu erschweren“, sagt Oberstaatsanwalt Gerlach.

„Wenn du ein Mann bist, dann komm raus“

Einzelne Mitglieder von Familie A. sollen dem späteren Hauptopfer mehrere Tage in Folge vor seinem Haus aufgelauert haben und eine passende Möglichkeit für einen Zugriff gesucht haben. In einer Nacht soll der 42-Jährige laut eigenen Angaben folgende Nachricht auf Arabisch erhalten haben: „Wenn du ein Mann bist, dann komm raus, wir bringen dich um.“

Am 14. Dezember 2020 – dem Tag der Singener Messerattacke – erstattete das spätere Hauptopfer im Polizeirevier Singen gegen 14 Uhr erneut Anzeige wegen des Vorfalles am 5. Dezember und wurde bei der Polizei als Beschuldigter vernommen. Schon vor Ort und bei der Abfahrt vom Revier in Richtung Rieslasinger Straße soll er von Mitgliedern der Familie A. beobachtet und dann verfolgt worden sein, wie auch Oberstaatsanwalt Gerlach bestätigt: „Zwei Fahrzeuge standen untereinander sowie mit weiteren Personen der Familie in telefonischem Kontakt. Gegen 14.20 Uhr erhielt der Geschädigte einen Anruf von seiner Frau, sie vom Krankenhaus abzuholen, deshalb wendete er“, sagt der Ankläger.

„Meinst du die Polizei, kann dich beschützen?“

Das Hauptopfer ist davon überzeugt, dass seine Kontrahenten ihn zwischen Rielasingen und Singen, wo es ein kurzes Waldstück gibt, abpassen wollten. „Wenn mich meine Frau nicht angerufen und ich nicht umgedreht hätte, hätten sie mich dort bei dem Waldstück umgebracht und niemand hätte ein Video oder Fotos gemacht – das war mein Glück“, sagt der 42-Jährige.

So sah der Kleinbus nach der Singener Messerattacke aus.
So sah der Kleinbus nach der Singener Messerattacke aus. | Bild: privat

Gegen 14.50 Uhr überholte ihn am Friedrich-Ebert-Platz, wo er bei Rot anhalten musste, eines der beiden Verfolgerfahrzeuge und beide Wagen mussten bei Rot anhalten. Alle acht Angeklagten sollen plötzlich ausgestiegen sein und den Kleinbus sowie die drei Insassen, darunter das 42-jährige Hauptopfer, sein damals 53-jähriger Cousin und dessen 28-jähriger Sohn, mit zwei Messern, einem Kreuzsteckschlüssel, einem Schlagstock, Faustschlägen und Fußtritten attackiert haben. Laut Anklageschrift soll einer der acht Beschuldigten gerufen haben: „Komm raus, wir bringen dich jetzt um. Meinst du, die Polizei kann dich beschützen?“

Lebensgefährliche Verletzungen

Die Staatsanwaltschaft stützt sich bei ihrer Anklage auf zahlreiche Videoaufnahmen und Zeugen, die den Angriff miterlebten und dokumentierten. Einzelne Sequenzen wurden vom Landeskriminalamt mehrfach vergrößert, um die Täter identifizieren zu können.

So sah der Kleinbus nach der Singener Messerattacke aus.
So sah der Kleinbus nach der Singener Messerattacke aus. | Bild: privat

Der 42-Jährige erlitt am rechten Oberschenkel laut Anklageschrift einen zehn Zentimeter langen Schnitt, bei der eine Vene durchtrennt wurde. „Der Stich lief in Richtung Schritt. Außerdem wurde sein rechtes Ohr zerschnitten und ihm im Gesicht mehrere lange Schnittwunden beigebracht sowie die Strecksehnen beim Daumen durchtrennt“, sagt Staatsanwalt Gerlach, der von lebensgefährlichen Verletzungen spricht.

Zwei weitere Opfer ebenfalls schwer verletzt

Auch die beiden weiteren Insassen erlitten bei dem konzertierten Angriff schwere Verletzungen: Dem 53-jährigen Cousin des Hauptopfers wurde die Hand gebrochen, sein 28-jähriger Sohn erlitt laut Anklageschrift multiple Gesichtsverletzungen und nach Schlägen auf den Kopf ein Schädel-Hirn-Trauma. „Als die Angeklagten vom Tatort flüchteten, war ihnen nicht klar, ob der Geschädigte sterben würde. Sie nahmen billigend seinen Tod in Kauf“, sagt Oberstaatsanwalt Gerlach.

Der Prozess wird am Montag in Stuttgart-Stammheim mit Zeugenvideos und dem Verlesen von Chatnachrichten fortgesetzt. Die acht Angeklagten wollten sich bisher zu den Vorwürfen nicht äußern. Für alle Genannten gilt die Unschuldsvermutung.