Zum Beispiel in Pforzheim. 128.000 Einwohner, über sechs Prozent Bevölkerungszuwachs in den vergangenen Jahren. Wohnraum fehlt wie überall im Land. Mehr als 57 Prozent der Stadtbevölkerung haben einen Migrationshintergrund, der Ausländeranteil liegt bei 30,2 Prozent. Die Arbeitslosigkeit im Stadtkreis ist – nach Mannheim – mit 6,0 Prozent die landesweit zweithöchste, über die Hälfte der Arbeitslosen (58 Prozent) in Pforzheim hat einen Fluchthintergrund. Die vielen Menschen mit Migrationshintergrund stellen die klamme Stadt seit Jahren vor enorme Herausforderungen, auch ohne Flüchtlinge.

Peter Boch, CDU, ist Oberbürgermeister von Pforzheim.
Peter Boch, CDU, ist Oberbürgermeister von Pforzheim. | Bild: Bäuerlein, Ulrike

Oberbürgermeister Peter Boch, 43, ist selbst Vater von drei Schulkindern in der Klassenstufen eins, drei und vier. Er weiß, was es heißt, wenn ein größerer Teil der Kinder in einer Klasse kaum Deutsch kann. „Unser Hauptjob ist es, Menschen, die hier leben, überhaupt integrieren zu können. Das bereitet uns schon jetzt Probleme“, sagt Boch. „Ohne die vielen Ehrenämtler wüssten wir überhaupt nicht, wo uns der Kopf steht. Das rettet uns im Moment.“

Plusminus 70 kommen jeden Monat

Aber der Strom der Asylsuchenden, die auch Pforzheim zugewiesen werden, reißt nicht ab. Ende des Jahres 2022 waren in den rund 35 städtischen Flüchtlingsunterkünften der vorläufigen Unterbringung und Anschlussunterbringung 1175 Personen – 400 Prozent mehr als 2021. Allein im Januar 2023 kamen 2700 Asylsuchende nach dem Verteil-Schlüssel unter den Bundesländern nach Baden-Württemberg, im Februar und März waren es je 2000, im April 2200. Die meisten aus der Türkei, aus Syrien und Afghanistan. Plusminus 70 von ihnen kommen nach Pforzheim. Jeden Monat.

Dazu kommen die Ukraine-Flüchtlinge, rund 1700 leben derzeit in der Stadt. „Wir haben jetzt mehr Menschen unterzubringen als auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle von 2015“, sagt Boch.

Zukunftsgestaltung fällt aus

Nur: Wohin mit ihnen? „Wohnungen anmieten ist seit Jahren das tägliche Brot der Stadt, alles, was auf den Markt kommt“, sagt Boch. Drei, vier Flächen hat die Stadt selbst noch zur Bebauung für Flüchtlingsquartiere. Dann ist es aus. „Es bleiben dann nur noch die Sporthallen“, sagt Boch. „Das bekomme ich in der Bevölkerung nicht mehr vermittelt.“ Das Schlimme: Andere Zukunftsgestaltung für die Stadt fällt aus. „Es ist ja nicht so, dass wir auf so einer Fläche nicht auch mal etwas entwickeln wollten, um einen Stadtteil wieder voranzubringen“, sagt Boch. Aber: Geht nicht. „Da verzweifelt man“, sagt Boch, „wir sind im Dauerkrisenmodus.“

Und als Bürgermeister hat er noch einen anderen Blick. „Ich sehe, worauf wir da in den nächsten Jahren zulaufen. Das ist ein riesiger Infrastrukturkreislauf, der da in Gang gesetzt wird. Wir wollen den Menschen helfen, die zu uns kommen und oftmals Schreckliches durchgemacht haben. Doch am Ende des Tages muss das eine Kommune auch leisten können“, sagt Boch. „Jeder Monat, den wir das weiterlaufen lassen, bringt uns vor neue Schwierigkeiten.“

Chef des Landkreistags malt ein düsteres Bild

Denn die Menschen brauchen ja nicht nur ein Dach über dem Kopf. Sie werden krank, Kinder müssen in Kindergärten und Schulen, die Älteren brauchen Pflege. Sie drängen in Gesundheits- und Sozialsysteme, die ohnehin schon überlastet sind. Hausärzte nehmen vielerorts keine neuen Patienten an, auf Facharzttermine muss man monatelang warten. Dazu sind viele der Geflüchteten traumatisiert, sie bräuchten psychologische Unterstützung und Therapien.

Alexis von Komorowski, Hauptgeschäftsführer des Landkreistages Baden-Württemberg
Alexis von Komorowski, Hauptgeschäftsführer des Landkreistages Baden-Württemberg | Bild: Sebastian Gollnow, dpa

Nicht nur in Pforzheim weiß man nicht, wie man das stemmen soll. Auch Alexis von Komorowski, Hauptgeschäftsführer des Landkreistags Baden-Württemberg, malt ein düsteres Bild. „Die Situation in den Kitas und den Schulen ist angespannt. Die Integrationskurse sind überlastet; es bestehen zum Teil erhebliche Wartezeiten. Gelingende Integration ist unter solchen Rahmenbedingungen nicht möglich; sie findet vielerorts schlicht nicht mehr statt.“ Verschärfend komme der auf absehbare Zeit nicht behebbare Personalmangel an allen Fronten dazu – nicht nur in den Kitas und Schulen, auch in Jobcentern, Sozialämtern und kommunalen Ausländerbehörden.

Weniger Flüchtlinge dank LEA?

Der Pforzheimer OB verfolgte in der Not einen anderen Plan. Wochenlang setzte er sich dafür ein, in einem leerstehenden Pforzheimer Industriegebäude eine Erstaufnahme des Landes für bis zu 1000 Menschen einzurichten. Der Deal: Im Gegenzug würde Pforzheim das so genannte LEA-Privileg erhalten. Das besagt: Wo eine Erstaufnahmeeinrichtung (EA) des Landes steht, entfällt für die Kommune ein Großteil ihrer regulären Aufnahmeverpflichtung. Das Justizministerium stellte Pforzheim ein Privileg von 100 Prozent in den Raum. „Es war unsere einzige Chance, weitere Zuweisungen zu verhindern“, sagt Boch.

Außenaufnahme einer früheren Gewerbeimmobile im Pforzheimer Industriegebiet Brötzinger Tal. Hier könnte eine LEA entstehen, der ...
Außenaufnahme einer früheren Gewerbeimmobile im Pforzheimer Industriegebiet Brötzinger Tal. Hier könnte eine LEA entstehen, der Gemeinderat ist jedoch dagegen. | Bild: Uli Deck, dpa

Es gab Aufruhr in der Stadt. Anfang April lehnte der Gemeinderat den Plan ab, mit 33 von 40 Stimmen. Woran es gelegen hat? „Der Fluch der großen Zahl“, meint Boch. 1000 Flüchtlinge auf einem Gelände, in dieser Stadt? Boch drang nicht durch mit den Vorteilen, die er benannte.

Wie es in Ellwangen lief

„Es lag daran, dass das Land Zusagen nicht einhält und nicht mit glaubhaften Zahlen argumentiert“, sagt dagegen Hans-Ulrich Rülke. Der Pforzheimer FDP-Politiker ist Vorsitzender der FDP-Landtagsfraktion und der FDP im Pforzheimer Gemeinderat. Munition für seine Argumente besorgte er sich mit einem Stapel von Landtagsanfragen, in denen er das Justizministerium auflisten ließ, wie es anderswo gelaufen ist mit den Versprechungen. Fast überall, so Rülke, seien die vom Land genannten Flüchtlingszahlen in den Einrichtungen überschritten worden.

Hans-Ulrich Rülke, Vorsitzender der FDP/DVP-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg, spricht in seinem Büro mit der dpa. (zu dpa: ...
Hans-Ulrich Rülke, Vorsitzender der FDP/DVP-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg, spricht in seinem Büro mit der dpa. (zu dpa: Atomkraft über 2026 hinaus? Rülke stellt Scholz-Machtwort in Frage) +++ dpa-Bildfunk +++ | Bild: Christoph Schmidt

In Ellwangen habe man zunächst maximal 700 Flüchtlinge versprochen und sei beim Höchststand von fast 4700 gelandet. Trotz angeblichem 100-Prozent-Privileg habe es auch weiter Zuweisungen gegeben. „Beide Parameter, die das Land versprochen hat, waren nicht glaubwürdig: Weder die Zahl von 1000 noch das 100-prozentige Privileg“, sagt Rülke. „In Kommunen wie Sigmaringen, Donaueschingen und Ellwangen hat man das Märchen am Anfang geglaubt.“ Pforzheim, dafür kämpfte er, sollte es nicht glauben.

Eine Ukrainerin vor der ehemaligen Zollernalb-Kaserne in Meßstetten.
Eine Ukrainerin vor der ehemaligen Zollernalb-Kaserne in Meßstetten. | Bild: Marijan Murat, dpa

Dagegen sagt das Justizministerium: Die Kommunen waren alle einverstanden. Auch kurzfristige Überschreitungen seien abgesprochen gewesen. Häufig sei Familiennachzug der Grund dafür. Im Ministerium fragt man sich zur Rülkes Rechnung: Soll man Eltern, Kinder oder Ehepartner von Geflüchteten abweisen, ans andere Ecke des Landes schicken? Auf die Frage, wo die Menschen hinsollen, wenn vor Ort die Kommunen dicht machen, bleibt auch der FDP-Politiker Rülke zurückhaltend. Das Land müsse eigene Flächen suchen. „Möglicherweise gibt es im Ländlichen Raum Möglichkeiten“, sagt Rülke.

Bürgermeister von Tamm und Asperg haben Zweifel

Nur: Wo? Momentan, teilt das Justizministerium mit, würden mögliche neue Standorte für Erstaufnahmen in Böblingen, Bruchsal, Waldkirch und Ludwigsburg bei Stuttgart geprüft. An letztgenanntem Standort steht zwischen den Städtchen Tamm, 12 000 Einwohner, und Asperg, 13 000 Einwohner, das letzte grüne Areal im dicht besiedelten Landkreis zur Debatte. Am vergangenen Wochenende wurde groß dagegen demonstriert. In Tamm und Asperg, sagen die Bürgermeister, werde über das Ehrenamt vorbildliche Integrationsarbeit geleistet. Aber 1000 Menschen zusätzlich? Das würde Menschen und Infrastruktur der Gemeinden völlig überfordern, fürchten sie.

Entscheidet das Land gegen die Kommunen?

In Pforzheim könnte das Land trotz des Gemeinderatsvotums die Pläne vorantreiben. Es wäre ein Tabubruch, aber Rechtslage und private Eigentumsverhältnisse erlauben es. Darauf wies Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) unlängst in Stuttgart hin. Denn wenn keiner sie will, wo sollen die Menschen denn hin? Die Botschaft elektrisierte die Kommunen. Ist Pforzheim jetzt also vom Tisch oder nicht? „Die Prüfung ist derzeit noch nicht abgeschlossen“, teilt das Justizministerium mit. OB Boch, der sich an das Gemeinderatsvotum gebunden fühlt, sagt: „Nach der Vorgeschichte wäre es ein Affront, wenn das Land eine EA gegen den erklärten Willen der Stadt einrichten würde.“

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Boch warnt. Die Menschen, sagt er, unterscheiden nicht zwischen den komplizierten Verteilschlüsseln und Begriffen wie Landeserstaufnahme, Erstaufnahme, vorläufige Unterbringung und Anschlussbringung. „Sie wollen einfach nicht, dass noch mehr kommen. Die Bevölkerung trägt das nicht mehr mit“, sagt Boch. „Wir Bürgermeister müssen den Menschen Akzeptanz für ein System vermitteln, für das die Kommunen nichts können und das für immer mehr Menschen inakzeptabel ist.“ Er fürchtet, dass die Stimmung kippen könnte. „Das Hauptthema in der Stadt ist: Wir haben doch schon so viele hier“, nimmt er aus seinen Bürgergesprächen mit. Die Bürger fingen an, in ihrer Stadt Unbehagen zu empfinden. Er glaubt: „Da baut sich etwas auf.“