Dienstagmorgen, Landgericht Ravensburg. Es ist der zweite Verhandlungstag, bei dem es um die Bluttat in einem Kressbronner Asylbewerberheim am 26. Juni 2022 geht. Zahlreiche Zuschauer sind gekommen, der Saal ist voll. Auch drei Dolmetscher sind vor Ort, sie übersetzen auf Englisch, Arabisch, Persisch. Nachdem beim ersten Termin Ende Dezember vor allem die Anklageschrift verlesen wurde, sagen nun Zeugen und Opfer aus. Insgesamt acht Menschen sind geladen. Sie alle waren in jener Nacht vor Ort, einige von ihnen wurden lebensgefährlich verletzt.

Angeklagter wirkt emotionslos

Auf der Anklagebank sitzt der 32-jährige Nigerianer, der gemeinsam mit anderen Geflüchteten in der Unterkunft lebte. Am Abend der Tat soll er mit einem Küchenmesser auf sieben arabischstämmige Mitbewohner eingestochen haben. Eines seiner Opfer verstarb noch am Tatort. Das Motiv laut Staatsanwaltschaft: „Streitigkeiten innerhalb der Unterkunft und der subjektive Eindruck des Angeklagten, dass die Integration der arabischstämmigen Mitbewohner besser gelinge und vom Staat tatkräftiger unterstützt werde.“ Vor Gericht antwortet der Mann mechanisch auf Fragen, seine Mimik ist starr. Er ist groß gewachsen, dünn, gar mager. Auch an diesem Tag äußert er sich vor Gericht nicht zur Tat.

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In der ersten Reihe sitzt die Witwe des Verstorbenen, die Frau sagt nicht als Zeugin aus. „Sie konnte kurzfristig für das Verfahren nach Deutschland einfliegen“, sagt Petra Brennenstuhl-Haug, Verteidigerin der Nebenklage. Zum Zeitpunkt der Tat habe sie sich mit den Kindern auf der Flucht befunden. „Sie hat ein Recht darauf, zu erfahren, was passiert ist“, sagt die Anwältin. Die Frau ist blass, sie weint immer wieder.

„Ich hoffe, dass Sie ihn so hart bestrafen, wie Sie nur können.“
Opfer

Wie die Tat nachwirkt, zeigt exemplarisch folgende Szene. Ein Opfer des mutmaßlichen Täters – sie wird nach einer bereits langen Verhandlung gegen 17 Uhr aufgerufen – betritt die Schwurgerichtskammer. Als sie den Mann auf der Anklagebank erblickt, bricht sie zusammen. Sie schreit, ihre Stimme klingt angsterfüllt. Ihr Ehemann eilt zu Hilfe, führt sie aus dem Saal. Richter Böhm muss die Verhandlung unterbrechen.

Zeugin schildert zitternd die Geschehnisse

Später kann die Frau in Begleitung ihres Mannes doch noch aussagen. Die 30-jährige Syrerin zittert, als sie zu sprechen beginnt. In der Nacht des 26. Juni habe sie Schreie gehört. Kurze Zeit später habe sie gesehen, wie der Angeklagte auf sein erstes Opfer einstach. „Ich habe meine Kinder in unser Zimmer gebracht, aber ich hatte keinen Schlüssel, um die Tür zu verschließen.“

Kurz darauf habe der Täter die Tür eingedrückt. „Er hat mich am Bein gepackt und auf mich eingestochen,“ erzählt die Frau. „Meine Kinder waren dabei.“ Die tiefen Verletzungen in Bauch und Beinen mussten sofort operiert werden. Bis heute leide sie unter Angst- und Schlafstörungen. Ihre Aussage beendet sie mit folgenden Worten: „Ich hoffe, dass Sie ihn so hart bestrafen, wie Sie nur können.“

Hat der Angeklagte die Tat geplant?

Auch ihr Ehemann ist als Zeuge geladen. Rückblickend schien es doch Anzeichen gegeben zu haben, dass etwas nicht mit dem Angeklagten stimme, erinnert er sich. Drei Tage vor der Tat habe er mit einem Freund – dem späteren Todesopfer – beobachtet, wie der Angeklagte vor der Unterkunft stand und das Gebäude anstarrte. „Was macht er da?“ habe er seinen Freund gefragt. „Wer weiß, was ihm in den Sinn gekommen ist“, habe der 38-jährige Syrer geantwortet, der später getötet wurde. Außerdem habe der mutmaßliche Täter vermehrt Sport gemacht. Der Zeuge: „Als würde er sich auf etwas vorbereiten.“

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Der 15-jährige Neffe des Opfers ist als letzter Zeuge geladen. „Am Abend der Tat saßen wir gemeinsam draußen, mein Onkel, ein anderer Mann und ich,“ erinnert er sich. Nachdem auch sie Hilferufe gehört hatten, teilten sie sich auf, um zu sehen, was passiert war. Er habe gesehen, wie sein Onkel über die Treppe in das Gebäude ging. Das sei das letzte Mal gewesen, dass er ihn lebend gesehen habe, bestätigt der 15-Jährige auf Nachfrage des Richters.

Erst nach dem Eintreffen der Beamten an der Unterkunft habe er erfahren, dass sein Onkel ermordet worden war. „Ich habe es nicht geglaubt. Ich dachte, er ist bestimmt in unserem Zimmer“, sagt der 15-Jährige mit gesenktem Kopf. „Aber da waren nur die Kinder.“ Denn laut mehrerer Zeugenaussagen hatte der 38-Jährige – kurz bevor er angegriffen wurde – die drei Kinder einer anderen Mitbewohnerin in seinem Zimmer eingeschlossen, um sie vor dem Täter zu schützen.

Jugendlicher verliert seine engste Bezugsperson

Gemeinsam mit seinem Onkel sei er aus Syrien nach Deutschland geflohen, berichtet der Neffe. Er sei seine engste Bezugsperson gewesen. „Wie ging es dir nach dem Vorfall?,“ will der Richter wissen. „Ich habe jeden Tag von ihm geträumt“, antwortet der junge Mann. Er spricht ruhig, sieht nicht zu dem Angeklagten hinüber.

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Wenig später beendet Böhm die Vernehmung des Jungen und gibt einen Ausblick auf die nächste Sitzung. In diesem Moment scheinen die Emotionen des 15-Jährigen überzukochen. Ein lauter Schlag. Schreie im Saal. Er hat einen Stuhl ergriffen und damit die Plexiglasscheibe, die den Angeklagten abschirmte, aus dem Rahmen geschlagen. Justizbeamte ergreifen ihn und bringen ihn nach draußen. Einige Zuschauer springen auf. Der Angeklagte wirkt erschrocken, sagt jedoch kein Wort. Mit einer scharfen Verwarnung beendet Richter Böhm die Sitzung.

Eines geht aus dem Verhandlungstag deutlich hervor: Alle Zeugen sind sich zweifellos sicher, dass der Mann auf der Anklagebank der Täter ist. Der nächste Verhandlungstermin ist auf den 19. Januar angesetzt.