Herr Schöll, können Sie sich noch an Ihre ersten Schritte ins Berufsleben erinnern?

Ich habe im Sommer 1982 hier an der Bodensee-Schule begonnen, zunächst als Fachlehrer. Vermutlich alles, was im Stundenplan noch übrig war, habe ich damals bekommen – von Religion in Klasse 4 bis Physik in Klasse 9. Aber das war gut so. Rektor war damals noch Klaus Mandler. Alfred Hinz, mein Vorgänger, war Konrektor. Ihn kannte ich noch aus meiner Zeit bei der Kuppelnauschule in Ravensburg, meine erste Station. Die hat mich vermutlich auf die richtige Spur gebracht. Hier wurden damals schon die ersten Schritte im fächerübergreifenden Unterricht und im erweiterten Bildungsangebot getan. Danach führte mich mein Weg nach Ulm, ein Umweg, wo ich genau das Gegenteil erlebt habe: eine Schule, die festgeschriebene Stoffverteilungspläne hatte. Da musste man einfach nur funktionieren. Mir war klar, hier kannst du nicht bleiben. Gott sei Dank hat mich die Bodensee-Schule genommen.

Am 23. September 2005 übernahm Gerhard Schöll (Mitte) den Staffelstab vom Alfred Hinz (rechts) als Leiter der Bodensee-Schule.
Am 23. September 2005 übernahm Gerhard Schöll (Mitte) den Staffelstab vom Alfred Hinz (rechts) als Leiter der Bodensee-Schule. | Bild: Bodenseeschule

Fast 40 Jahre später geht Ihre Schulzeit zu Ende. So richtig Lust auf Ruhestand scheinen Sie aber nicht zu haben…

Das würde ich wahrscheinlich gar nicht aushalten (lacht). Nein, es war die Bitte sowohl von Frau Emhardt als auch von Herrn Schlenker als neues Schulleitungsteam, dass ich ihnen die Finanzen, die Liegenschaften und solche Dinge, die ein staatlicher Schulleiter ja gar nicht an der Backe hat, abnehme. Ich nehme mich also aus der Pädagogik heraus und schaue weiter nach den Rahmenbedingungen für die Schule.

Gerade in den vergangenen Jahren ist viel an Ihrer Schule passiert. Ich nenne mal nur das Sozialwissenschaftliche Gymnasium, das 2014 an den Start ging. Haben sich die Erwartungen erfüllt?

Es war das Ziel, unseren Kindern einen Lebensraum bieten zu können, der von der Einschulung bis zum Abitur unter einem Konzept läuft. Wir tun uns in der Oberstufe wesentlich schwerer, den Marchtaler Plan umzusetzen, aber sind da auf einem richtig guten Weg. Wir versuchen auch hier, mit dem vernetzten Unterricht Zusammenhänge deutlich werden zu lassen. Meine Sorge war aber, dass mit der Einrichtung des Gymnasiums plötzlich alle Eltern glauben, alle Kinder machen jetzt das Abitur. Das wird nicht geschehen, auch in Zukunft nicht. Aber wir haben unter den Besten der letzten zwei Abi-Jahrgänge mit einem Schnitt besser als 1,5 Jugendliche, die drei Jahre zuvor noch Hauptschüler waren. Genau das war die Vision von diesem Gymnasium: Kindern wirklich nochmal die Tür aufzumachen, die sich den Anforderungen stellen wollen und können.

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Sie haben nach wie vor genügend Anmeldungen für das Gymnasium?

Wir hätten auch in diesem Jahr mehr als 60 Jugendliche aufnehmen können, mehr geht nicht. Wobei wir nicht nach den Noten schauen, sondern nach dem Anmeldedatum. Wenn jemand die 3,0 als Einstiegskriterium mitbringt, dann steht es uns nicht zu, einen Numerus Clausus einzuführen.

Wie hoch ist der Drang von Schülern aus der Bodensee-Schule, am Gymnasium weiter zu lernen?

Ungefähr ein Drittel des Abschlussjahrgangs geht aufs Gymnasium. Ein Drittel kommt aus St. Elisabeth, und ungefähr ein Drittel von anderen Schulen. Wobei wir spüren, dass viele Gymnasiasten nach dem neunten oder zehnten Schuljahr mit dem Versetzungszeugnis bei uns nochmal die Chance eines Neubeginns angehen wollen.

Mittendrin: Ob Grundschüler, Gymnasiast oder Rektor – an der Bodensee-Schule gehen mittags alle zusammen in der Schulkantine essen.
Mittendrin: Ob Grundschüler, Gymnasiast oder Rektor – an der Bodensee-Schule gehen mittags alle zusammen in der Schulkantine essen. | Bild: Cuko, Katy

Die Bodensee-Schule war Motor in vielfältiger Hinsicht und steht auch für viele Begriffe: Reformschule, Blick über den Zaun, individualisierter Unterricht, Bildungspartnerschaft, Ganztags- und Gemeinschaftsschule… Heute findet dieses Verständnis von Schule einen deutlich größeren Raum in der Gesellschaft. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Die Bodensee-Schule war nahe an der Entwicklung der Gemeinschaftsschule dran. Ich selbst war in der Projektgruppe in Stuttgart. Ich denke, die Gemeinschaftsschule wurde zu schnell und parteipolitisch-ideologisch auf den Weg gebracht. Viele Schulen waren nicht vorbereitet, haben das zuerst als Rettung ihrer Schule gesehen. Die Ergebnisse sieht man jetzt schon in einzelnen Schulen, die sich sehr schwer tun, Kinder zu bekommen. Das Ansehen ist nicht da, wo es hin sollte. Ich denke, Politiker sollten sich aus der Schule heraushalten. Wir brauchen schlichtweg einen parteipolitisch unabhängigen Bildungsrat. Was wir im Moment in Baden-Württemberg als Schulllandschaft haben, ist für Eltern oft nicht durchschaubar und fördert die Verunsicherung. Die Realschule neu als Gegenpol zur Gemeinschaftsschule ist aus meiner Sicht keine pädagogische Entscheidung, sondern ein parteipolitisches Manöver. Man sollte vielmehr an einem Strang ziehen und überschaubare Schulstrukturen schaffen. Mit Kindern macht man keine Experimente.

Zeigt die Bodenseeschule, wie man es besser macht?

Wir sind aus meiner Sicht eine Gemeinschaftsschule. Als wir mit dem Gymnasium begonnen haben, sind wir auch in die Inklusion verstärkt eingestiegen – gleichzeitig mit 50 Gymnasiasten und 50 Kindern mit Förderbedarf. Um noch einmal deutlich zu machen: Unsere Aufgabe als Schule ist die ganze Bandbreite. Wir wollten noch einmal deutlich zeigen, dass wir uns für alle verantwortlich fühlen. Der entscheidende Unterschied bei uns ist, dass wir diesen Wertehorizont und das christliche Menschenbild als Fundament haben. In der Gemeinschaftsschule ging es darum, eine neue Schulform zu installieren, die Kinder gleich behandelt. Aber wenn man in zwei, drei Niveaustufen unterwegs ist, dann stimmt das nicht mehr.

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Hat sich mit den Veränderungen im staatlichen Schulsystem etwas für die private Bodensee-Schule verändert?

Wir sind leiser geworden, haben uns ein wenig abgeschottet. Wir liefen Gefahr, ein Stück weit zum Zoo zu werden. Viele sind gekommen, wollten schauen, wie wir das machen. Hat man später nachgefragt, was habt ihr mitgenommen, ging oft der Satz mit „Ja, aber“ los. Ich bin sicher, es kann in jeder Schule etwas verändert werden, wenn die Schulentwicklung aus der Schule heraus kommt. Dann passt dieses „Ja, aber“ nicht. Wir haben nach wie vor die Situation, dass wir in Klasse 1, Klasse 5 und Klasse 11 nicht alle Schüler aufnehmen können, die auf die Bodensee-Schule wollen. Diese Wertschätzung der Elternschaft ist da, und wir erklären den Eltern, wo unser Anliegen ist. Dann wird das eine kompetente Partnerschaft in der Schullaufbahn des Kindes. Das ist das Entscheidende für mich.

Wie gut ist die Bodensee-Schule heute aufgestellt?

Wir haben mit Sicherheit ein sehr tief gründendes Fundament, das steht felsenfest. Aber die Welt und die Kinder verlangen uns täglich neue Antworten ab. Deshalb sind wir mit den anderen Marchtaler-Plan-Schulen immer daran, nach Fortentwicklung zu suchen. Von der Unterrichtsqualität über neue Materialien für die freie Stillarbeit bis hin dazu, dass wir auch wieder in den Ganztagsbereich investieren. In die Mittagsfreizeit fließt richtig viel Geld bei uns hinein, weil wir sicher sind, das gehört auch zur Schule dazu. In der Schule wird man nie fertig sein.

Hat im Marchtaler Plan der Trend zur Digitalisierung Platz?

Wir gehen da sehr vorsichtig darauf zu. Da ist mir die Gesellschaft viel zu schnell. Dieses Hurra, jeder hat ein Tablet und dann sind alle Probleme beseitigt… Das wird ein Aufwachen geben. Wir setzen moderne Medien wie Whiteboards, Tischkameras, Beamer ein und auch in der Grundschule in Medien-AGs sind Tablets im Einsatz. Aber wir haben immer noch die Person im Vordergrund, und die muss gestärkt werden. Der Mensch muss für sich entscheiden können: Was ist für mich richtig und wichtig und was nicht. Auch das gehört zur Medienbildung.

Wenn man so lange in der Schule gearbeitet hat wie Sie: Sind Kinder heute anders als vor 20, 30 oder 40 Jahren?

Das ist ein ganz wunder Punkt bei mir. Ich denke, die Kinder heute haben es viel schwerer als wir es hatten. Als ich heute morgen in die Schule fuhr, hörte ich von einer Forderung des Ärzteverbandes, ein Fach für die Gesundheitserziehung einzuführen – mit Prüfungsverpflichtung. Die sollen sich einfach raushalten. Unsere Kinder werden von vielen Seiten fast zugemüllt. Unsere Aufgabe ist es, ihnen eine freie Sicht zu verschaffen. Gesundheitserziehung findet im Alltag statt und nicht in Prüfungen.

Aber der gesellschaftliche Druck ist groß…

Deshalb bin ich mir sicher: Es nutzt nichts, wenn wir Ellenbogen trainieren. Wir müssen Rückgrat stärken. Ich bin viel mit Eltern im Gespräch, die diesen Blickwinkel oder -wechsel für sich schon geschafft haben und sagen, es ist wichtig, dass unser Kind als Persönlichkeit heranwächst, dass unser Kind stabil im Leben steht. Und so ein Kind findet dann auch seinen Weg, da bin ich mir sehr sicher.

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Was würden Sie nach fast 30-jähriger Tätigkeit als Rektor anders machen?

Ich würde die Schulen mehr in die Pflicht nehmen: Schulentwicklung muss in der Schule stattfinden. Man kann das nicht über Lehrpläne oder Verwaltungsordnungen steuern, das geht schief. Ich muss mit den Menschen arbeiten, mit denen ich zusammen bin und das machen, was möglich ist. So ist in der Bodensee-Schule sehr viel aus sich heraus entstanden. Ich wusste immer, da gibt es ein Kollegium, das schaut nach vorn, das will etwas entwickeln. Und dann bleibt man auch nicht stehen. Wir haben in den letzten Jahren beispielsweise stark an der Teamarbeit gearbeitet. Bei 140 pädagogischen Mitarbeitern können wir nicht in Konferenzen arbeiten. Diese Strukturen hätten wir vielleicht früher aufbauen müssen. Aber zehn Jahre sind keine Zeit in der Schule. Man muss sich Zeit lassen können. Deshalb sind 30 Jahre Schulleitung gar nicht schlimm.

Diese Freiräume haben staatliche Schulen aber nicht in dem Maße, oder?

Die Lehrpläne geben Freiräume. Aber das Problem ist, dass die Ausbildung unserer Kollegen heute noch sehr fachbezogen ist, nicht aufs Kind bezogen. Wir unterrichten aber Kinder und nicht nur Fächer. In diesem Bewusstsein findet man auch die Möglichkeiten und Freiheiten, die ein Lehrplan gibt.

Gehen Sie eher mit einem lachenden oder eher mit einem weinenden Auge aus der Schule hinaus?

Da ich heute immer noch gern in die Schule gehe, tränt das eine Auge schon. Aber ich weiß auch, dass die Zeit jetzt reif ist, die Leitung in andere Hände zu geben. Ich bin in der glücklichen Situation, dass ich weiß, dass es gut weiter geht, weil es Menschen sind, die sich der Schule genauso verschrieben haben wie ich. Und ich bin ja nicht ganz weg und werde ab und an mal nach dem Puls fühlen.

Fragen: Katy Cuko