Bei Lisa Czok duftet es nach frischem Apfelkuchen. Der weiße Schäferhund Malou sieht nach dem Rechten, ehe er sich vor dem Kamin zusammenrollt. An den Wänden hängen Familienbilder und ein Kalender: ihre Tochter hat 365 Bilder zusammengebastelt, mit 365 "Dankeschöns", für Vorlesen, Loslassen, Decke feststecken und vieles mehr. Lisa Czok hat ein offenes Lachen und eine Allergie gegen Mitleid: "Ich bin ein glücklicher Mensch. Bis ich 54 war, wusste ich nichts von der Krankheit, hatte eine Brille und ansonsten allenfalls Karies!."

 

Doch jahrelang litt sie an Hungerattacken, Schwächegefühl und Schwindel. "Einmal war ich mit dem Hund spazieren und bin zusammengebrochen. Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Der Hund hat mich heimgebracht", sagt sie. Sie stellte fest, dass Süßigkeiten halfen. "Ich wusste, dass etwas mit mir nicht stimmt, aber ich wusste nicht, was." Sie zog von Arzt zu Arzt, wurde weitergereicht zu Neurologen, Kardiologen, Psychologen – niemand stellt etwas fest. Als sie beim Beeren pflücken zusammenklappte und mit Schaum vor dem Mund halluzinierte, brachte ihr Mann sie ins Krankenhaus. Auch dort war man ratlos.

Der weiße Schäferhund Malou ist schon seit Jahren ein treuer Begleiter für Lisa Czok. Bild: Corinna Raupach
Der weiße Schäferhund Malou ist schon seit Jahren ein treuer Begleiter für Lisa Czok. Bild: Corinna Raupach | Bild: Corinna Raupach

Erst nach weiteren Zusammenbrüchen beim Besuch der Tochter in Berlin vermutet ein Arzt richtig. Ein kontrollierter und überwachter Hungertest erhärtet den Verdacht auf ein Insulinom. "Ein Insulinom ist ein Tumor der Bauchspeicheldrüse, er kommt bei vier von einer Million Menschen vor", sagt Czok. Der Tumor schüttet Insulin aus, sodass die Erkrankten unter lebensbedrohlicher Unterzuckerung leiden. "Ich hatte Glück, dass ich nicht im Schlaf ins Koma gefallen oder beim Schwimmen ertrunken bin."

Insulinom

Ein Insulinom ist ein sehr seltener Tumor der Bauchspeicheldrüse. Er schüttet unkontrolliert Insulin aus und senkt so den Blutzuckerspiegel. Symptome: Hunger- und Schwächegefühl, Zittern, Schwitzen bis zur Bewusstlosigkeit.

Im September 2013 entdecken sie im Münchener Uniklinikum Großhadern gleich zwei Insulinome, außerdem ein Mammakarzinom. Am 25. September steht die Operation im Bauchraum an. "Zu meinem Glück wusste ich nicht, dass die Whipple-OP eine der schwierigsten und größten OPs ist, die es gibt", sagt Czok.

Kausch-Whipple-OP

Die nach Walter Kausch und Allen Oldfather Whipple benannte Operation ist der Standardeingriff zur Beseitigung eines Bauchspeicheldrüsentumors. Sie entfernt Zwölffingerdarm, Gallenblase und Teile von Bauchspeicheldrüse und Magen.

Die Bauchspeicheldrüse liegt ganz hinten im Bauchraum. Um an sie heranzukommen, müssen alle Organe herausgenommen und wieder eingesetzt werden, einige werden entfernt. Nach sieben Stunden Operation liegt sie vier Tage auf der Intensivstation: "Daran habe ich keine Erinnerung."

Brustkrebs

Brustkrebs ist ein bösartiger Tumor der Brustdrüse. Er ist in Deutschland die häufigste Krebserkrankung bei Frauen. Rund 69 000 Frauen erkranken im Jahr. Bei früher Diagnose sind die Heilungschancen gut.

Als sie aufwacht, ist ihr Körper so angeschwollen, dass sie ihre Finger nicht mehr erkennt, sie hat unglaublich starke Schmerzen und kämpft ums Überleben. "Wichtig ist zu wissen, dass man nicht allein ist. Ich bin sehr gläubig, das hilft. Ich denke, Gott hat einen Plan. Wir sind nicht privilegiert zu wissen, was der Plan ist, aber wir müssen vertrauen, dass er gut ist", sagt sie. Sie sei nie traurig oder bitter gewesen, sondern froh, endlich den Grund für die Beschwerden zu kennen.

Für eine Chemotherapie ist Lisa Czok zu schwach

Als sie Mitte November die abschließenden Untersuchungsergebnisse bekommt, sagt der Gynäkologe: "Es ist Zeit, wir müssen mit der Brustkrebsbehandlung anfangen." Im Januar wird der Tumor entfernt, für eine Chemotherapie ist sie zu schwach. Nach sechs Wochen Bestrahlung entscheidet sie sich für eine Reha an der Ostsee, mit anderen Brustkrebspatientinnen. "Die Reha für die Bauchspeicheldrüse wollte ich mir nicht zumuten, ich hatte Angst vor der Traurigkeit."

Die Kraft war nicht mehr da

Danach versucht sie, ihr Leben dort weiterzuleben, wo sie im Herbst aufgehört hat und tritt ihre Stelle beim Roten Kreuz wieder an. Sie wird immer wieder krank und muss sich eingestehen, dass ihre Kraft nicht ausreicht. "Ich kann keine regelmäßige Tätigkeit ausüben", sagt sie. Jetzt ist sie 59, bekommt Erwerbsminderungsrente und ist gesundheitlich stabil. Der operierte Verdauungstrakt macht Probleme, an guten Tagen kann sie essen, an schlechten nicht. Zu jedem Essen muss sie Enzyme nehmen, sie leidet an Müdigkeit und Muskelschwäche. Trotzdem spürt sie jeden Tag tiefe Zufriedenheit und Dankbarkeit. "Mein größter Halt ist mein Ehemann, Geliebter und bester Freund Jürgen, mein größtes Glück sind meine drei erwachsenen Kinder, meine größte Freude sind meine vielen Freunde", sagt sie.

Als junge Frau zog es sie an den Bodensee

Eigentlich war Lisa Czoks Leben auch ohne die Krankheit aufregend genug: Als eines von sieben Geschwistern in Amerika geboren, kam sie mit 21 nach Konstanz. "Ich wollte ein Stipendium für mein Studium und da waren Sprachkenntnisse Voraussetzung", sagt sie. Aus den geplanten sechs Wochen wurden Jahre, in denen sie Politik und Geschichte in Tübingen studierte. Nach dem Studium endeten Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis und sie ging wieder in die USA.

Pendelei zwischen Friedrichshafen, München und dem Rest der Welt

Aber Jürgen Czok reiste ihr nach, sie heirateten und mit ihm kehrte sie zurück. Am ersten Tag in Deutschland hatte sie ihn kennengelernt. "Er begann sein Studium im öffentlichen Dienst und sprach sehr gut Englisch", erinnert sie sich. Sie arbeitete bei Dornier. "Sie wollten den Lithotripter international vermarkten. Es gab nicht viele, die Englisch konnten und etwas von Marketing verstanden", sagt sie. So pendelte sie zwischen Friedrichshafen, München und dem Rest der Welt, entwickelte Werbestrategien und hielt Vorträge: "Es war ein superstressiges, aber schönes Berufsleben."

Auf einmal sass sie schwanger im Fischbacher Reihenhaus

Dann wurde sie schwanger und saß mit Sohn Kevin im Reihenhaus in Fischbach. Ihr Versuch, trotz fehlender Ganztagsbetreuung weiter zu arbeiten, scheiterte. "Das war eine einsame Zeit", sagt sie. Die anderen Mütter kannten einander. "Ich war die Ausländerin, ich hatte wenige Kontakte." Sie bekam ihre Töchter, engagierte sich in Elternbeirat, Sportverein, Kirche und Seniorengymnastik. Langsam wurde es besser. "Jetzt sagen meine Nachbarinnen, ich sei gar keine richtige Ausländerin", sagt sie und lacht.

Heute ist sie in der Frauenselbsthilfe aktiv

Heute leitet sie die Fahrradwerkstatt für Flüchtlinge. "Ich weiß, wie es ist, fremd zu sein", sagt sie und besteht gerade deshalb bei ihren Schützlingen auf Höflichkeit, Ehrlichkeit und Verlässlichkeit. "Für manche bin ich eine Ersatzmutter", sagt sie. Sie ist Vizevorsitzende der Häfler Frauenselbsthilfe nach Krebs. "Wir beraten Frauen, etwa bei Anträgen auf Reha, das ist ein Dschungel." Frauen, die die Diagnose Krebs bekommen, rät sie zu einer zweiten Meinung. "Sie sollten sich die Zeit nehmen, zum Beispiel in eine Uniklinik gehen. Dort sind die Ärzte auf dem neuesten Stand und haben kein finanzielles Interesse an einer Diagnose." Sie hat gelernt, sorgsam mit sich umzugehen. "Nur wenn ich auf mich selbst achte, kann ich auch auf andere achten", sagt sie. Sie hat ihre Ernährung umgestellt, treibt Sport und schläft viel. Und wenn sich morgens ein schlechter Tag ankündigt, sagt sie ihm: "Challenge accepted!"

Frauenselbsthilfe

Der Verband Frauenselbsthilfe nach Krebs wurde 1976 von betroffenen Frauen gegründet, um die Versorgung bei Krebserkrankungen zu verbessern und das Thema zu enttabuisieren. Das Motto ist „Auffangen – Informieren – Begleiten“.