Frau Bosler kommt gerade mit der Regionalbahn aus Ulm an Gleis 3 an. So wie jeden Tag. „Ich fahre täglich von Ulm nach Friedrichshafen und zurück, um meine schwerkranke Tochter zu besuchen“, sagt sie ein wenig atemlos, während sie die steilen Treppen vom Gleis in die Unterführung hinabsteigt. Den Stock fest in der linken Hand, den schweren Rucksack auf dem Rücken. „Ich muss dem Kind ja alles aus Ulm mitbringen, denn bis zum Rewe am Stadtbahnhof schaffe ich es nicht ohne Aufzug“, murmelt sie. Lydia Bosler ist 81 Jahre alt.

Für den weiten Umweg reicht die Kraft nicht

Ihre Tochter Sabine Hägele ist seit dem siebten Lebensjahr schwerbehindert und wird im Franziskuszentrum in Friedrichshafen gepflegt. Sie sitzt im Rollstuhl. „Seit dieser Stadtbahnhof umgebaut wird, können wir gar nicht mehr an den See runter fahren“, sagt Lydia Bosler, „denn wir schaffen den großen Umweg gar nicht.“ Wenige Meter von ihr entfernt hängt das Schild, das den Weg markiert. „Kein barrierefreier Durchgang/Bahnhofsvorplatz möglich“ steht darauf. „Bei Bedarf“ solle die Unterführung in der Riedleparkstraße genutzt werden. Den „Bedarf“, den hätten Frau Bosler und ihre Tochter schon. Die Kraft dazu, 500 Meter Umweg zu rollen und zu laufen, die haben sie beide nicht.

500 Meter Umweg sollen Menschen mit Behinderung oder Mobilitätsbeeinträchtigung laufen, um von einer Seite der Unterführung zur anderen ...
500 Meter Umweg sollen Menschen mit Behinderung oder Mobilitätsbeeinträchtigung laufen, um von einer Seite der Unterführung zur anderen zu kommen. Es geht einmal um den ganzen Block und durch die Unterführung Riedleparkstraße. | Bild: Wienrich, Sabine

Bis 2024 soll der Bahnhof barrierefrei ausgebaut werden

Der Stadtbahnhof in Friedrichshafen – er ist ein Paradebeispiel für die Barrieren, mit denen Menschen mit Behinderung oder Mobilitätseinschränkung, die Teilhabe am öffentlichen Nahverkehr praktisch unmöglich gemacht wird. Dabei ist das 15-Millionen-Projekt barrierefreier Bahnhof längst in der Umsetzung: Bis 2024 soll der Häfler Stadtbahnhof barrierefrei ausgebaut werden – mit neuen Aufzügen, erhöhten Bahnsteigen und taktilem Leitsystem. Auch die Unterführung soll neu gestaltet werden. Doch während der Bauarbeiten ist der Bahnhof ein einziges Barriere-Desaster, denn der einzige Aufzug, der in die Unterführung führt, ist seit vielen Monaten weg. Ersatz gibt es nicht.

Dort, wo einst der einzige Aufzug des Bahnhofs in Friedrichshafen war, um in die Unterführung zu kommen, ist nun Baustelle. Einen Ersatz ...
Dort, wo einst der einzige Aufzug des Bahnhofs in Friedrichshafen war, um in die Unterführung zu kommen, ist nun Baustelle. Einen Ersatz gibt es nicht. | Bild: Wienrich, Sabine

Fünf Jugendliche mit Schulrucksäcken kommen von Gleis 3 in die Unterführung. Gleis 3 ist sehr eng, baustellenbedingt. Sie tragen das Fahrrad einer älteren Dame. Zeit für ein Foto haben sie nicht, der Bus fährt gleich. „Außer zu Gleis 1 kommt man ja nirgends ans Gleis ohne Hilfe“, sagt die Dame.

Kinderwagen die Treppe hoch tragen? Geht gerade so

Anton Bodenmüller aus Friedrichshafen bleibt stehen. „Überall fehlen Aufzüge“, sagt er und deutet auf die Ecke, in der es mal den einzigen Aufzug gab, „ich sehe immer wieder, wie Behinderte hilflos dastehen, weil sie keine Möglichkeit haben, die Treppen hochzukommen. Oder Frauen mit Kinderwagen.“ Er selbst fahre kaum Bahn, aber auch kaum Auto.

Anton Bodenmüller aus Friedrichshafen fährt wenig Bahn, geht aber öfter durch die Unterführung vom Franziskusplatz an den See. ...
Anton Bodenmüller aus Friedrichshafen fährt wenig Bahn, geht aber öfter durch die Unterführung vom Franziskusplatz an den See. „Der Aufzug fehlt“, sagt er. | Bild: Wienrich, Sabine

Safa Jelassi und Nadine Saowli kommen vorbei. Im Kinderwagen sitzt ein kleiner Junge. Die beiden Frauen fahren öfter mit der Bahn, nach Biberach zur Schule zum Beispiel. Den Kinderwagen die Treppe hoch und runter tragen – das sind sie gewöhnt. „Für einen Kinderwagen gibt es immer irgendwie eine Lösung, aber ein Mensch mit Rollstuhl hat hier einfach richtig große Probleme“, sagt Jelassi.

Nadine Saowli und Safa Jelassi sind oft mit Kinderwagen unterwegs – und tragen dann, Treppen hoch, Treppen runter.
Nadine Saowli und Safa Jelassi sind oft mit Kinderwagen unterwegs – und tragen dann, Treppen hoch, Treppen runter. | Bild: Wienrich, Sabine
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Warum gibt es keinen Ersatzaufzug?

Wie die Deutsche Bahn auf die Idee kommt, den Aufzug ersatzlos abzubauen – und einen Umweg von 500 Metern bergauf, bergab als Alternative für Menschen mit Behinderung benennt? Der SÜDKURIER hat der Bahn diese Frage mehrfach gestellt – ohne eine Antwort zu bekommen. Strukturell, organisatorisch – die Deutsche Bahn scheint zu viele Baustellen zu haben. Könnte die Stadt Friedrichshafen nicht einspringen? Immerhin beteiligt sie sich mit rund 2,85 Millionen Euro an den Kosten des barrierefreien Umbaus. „Für die Details und die Planung der Baustelle ist die Deutsche Bahn zuständig“, sagt Stadtsprecherin Monika Blank.

Die Arbeiten am Gleis 2 sind voll im Gange. Bis 2024 soll der Stadtbahnhof barrierefrei sein.
Die Arbeiten am Gleis 2 sind voll im Gange. Bis 2024 soll der Stadtbahnhof barrierefrei sein. | Bild: Wienrich, Sabine

Frau Bosler muss weiter. Ihre Tochter hatte vor neun Monaten einen Schlaganfall, es geht bergab. Seither sitzt die 81-Jährige jeden Tag an ihrem Bett, manchmal fährt sie sie auch in die Sonne nach draußen. „Das Kind hat nur noch mich“, sagt Lydia Bosler müde. Die Bahn sei die einzige Alternative für sie, nach Friedrichshafen zu kommen. „Mein Mann war Polizist und hat gesagt, mit 70 hört man auf, Auto zu fahren“, erklärt sie mit einem Lächeln, „ich hab mich nicht ganz dran gehalten, aber jetzt fahr ich nicht mehr Auto.“

Die vielen Treppen zum Gleis, die kalten Züge und Bahngleise, die Verspätungen – all die Barrieren nimmt Lydia Bosler in Kauf, um ihre Tochter zu sehen. „Ach, bis dieser Aufzug kommt, bin ich eh schon tot“, sagt sie, nimmt ihren Stock und geht.