Für Nadja Will war die Diagnose vor fünf Jahren niederschmetternd: Brustkrebs in seiner aggressivsten Form. Die Überlebenschance lag bei 20 Prozent. Sollte das Leben für die 34-Jährige mit zwei kleinen Kindern schon zu Ende sein?

Bild 1: Wenn blinde Frauen Brustkrebs ertasten
Bild: Cuko, Katy
„Ich hätte mir das Wissen um dieses Angebot in meiner Zeit selbst gewünscht.“
Nadja Will, die Brustkrebs überlebt hat und heute für discovering hands arbeitet

70.000 Frauen erkranken in Deutschland jedes Jahr neu an Brustkrebs, 18.000 sterben. Viel mehr könnten überleben, wenn der Tumor früher erkannt worden wäre. Der von Nadja Will war schon 2,7 Zentimeter groß. Auch deshalb, weil ihre Frauenärztin den Knoten bei der Vorsorge als „da ist nichts“ abtat. Die Ultraschalluntersuchung musste sich die Anästhesieschwester quasi erkämpfen.

Es geht auch anders

Nach Chemo- und Strahlentherapie samt Operation ist Nadja Will heute für „discovering hands“ als Expertin für Brustgesundheit unterwegs und weiß, dass es anders geht. Das gemeinnützige Sozialunternehmen setzt blinde und hochgradig sehbehinderte Frauen mit ihrem besonderen Tastsinn bei der Früherkennung von Brustkrebs ein. „Ich hätte mir das Wissen um dieses Angebot in meiner Zeit selbst gewünscht“, sagt Nadja Will.

Lücke in der Krebsvorsorge

Denn da klafft eine Lücke. Die gesetzliche Vorsorge beim Frauenarzt sieht eine Tastuntersuchung der Brüste vor – einmal im Jahr. Mehr als ein, zwei Minuten hat die Gynäkologin dafür meistens nicht. Die Mammografie wird erst ab dem 50. Lebensjahr angeboten, obwohl jede fünfte Patientin vorher an Brustkrebs erkrankt. Außerdem nutzen viele Frauen das Screening aus Angst vor Schmerzen nicht. Und bei der Selbstuntersuchung wissen die Wenigsten, wie sie effektiv vorgehen sollten.

Die blinden Untersucherinnen können Knoten in der Brust von wenigen Millimetern, so wie die rosa Kügelchen auf dieser Schnur, ertasten. ...
Die blinden Untersucherinnen können Knoten in der Brust von wenigen Millimetern, so wie die rosa Kügelchen auf dieser Schnur, ertasten. Die beiden nächst größeren Kugeln vermögen Frauenärzte zu ertasten, die beiden größten „Knoten“ Frauen in der Selbstvorsorge. | Bild: Cuko, Katy

Daniela Mettvett zeigt, wie es anders geht. Der Oberkörper an der Modellpuppe ist mit Klebestreifen in Zonen eingeteilt. Systematisch tastet sie die Brüste Zentimeter für Zentimeter in drei Tiefen ab. Das dauert 30 bis 60 Minuten. Bei Veränderungen im Gewebe helfen die Klebestreifen, den Befund genau zu lokalisieren. Ob es tatsächlich Brustkrebs ist, stellt dann ein Facharzt nach weiteren Untersuchungen fest. Diese Methode der Diagnose nennt sich Taktilographie.

Der Chefarzt der Frauenklinik am Medizin Campus Bodensee, Hans-Walter Vollert, ist froh, die taktile Diagnostik erstmals in der Region ...
Der Chefarzt der Frauenklinik am Medizin Campus Bodensee, Hans-Walter Vollert, ist froh, die taktile Diagnostik erstmals in der Region anbieten zu können. Nadja Will (rechts) und Untersucherin Daniela Mettvett von discovering hands ebenso. | Bild: Cuko, Katy

Diese ergänzende Form der Vorsorge bietet derzeit erstmals in der Region das Klinikum Friedrichshafen an, vorerst allerdings nur Beschäftigten bei Rolls Royce Power Systems (RRPS) – Frauen und Männern, denn auch „er“ kann an Brustkrebs erkranken. Die nächste Frauenarztpraxis, die die Taktilographie im Programm hat, ist 100 Kilometer entfernt.

Neue Untersuchungsmethode am See

Erste Bemühungen von Hans-Walter Vollert, Chefarzt der Frauenklinik, eine blinde Frau für die Untersuchungsmethode zu finden, schlugen fehl. Dabei ist Friedrichshafen mit dem Brustzentrum Bodensee in Sachen Behandlung und Nachsorge bestens aufgestellt. „Unser ganzes Team steht dahinter“, freut sich Vollert, dass das mit RRPS als Pilotaktion geklappt hat. Er hofft, diese Methode der Früherkennung zusammen mit „discovering hands“ nun am See etablieren zu können – mit weiteren Unternehmen und auch Praxen.

Thelse Godewerth
Thelse Godewerth | Bild: Rolls-Royce Power Systems AG
„Fast jeder weiß einen Menschen in seinem Umfeld, der betroffen ist.“
Thelse Godewerth, Personalchef bei RRPS

„Es ist schön, dass wir Ihnen dafür den Rückenwind geben können“, freut sich Thelse Godewerth, Personalchefin bei RRPS, für Vollert. Sie sei selbst Mutter von drei erwachsenen Töchtern und weiß, „dass fast jeder einen Menschen in seinem Umfeld weiß, der betroffen ist“. Das Unternehmen hat allen Beschäftigten in Friedrichshafen die Untersuchung angeboten und bezahlt sie auch zusammen mit der Betriebskrankenkasse BKK MTU. Die ersten 136 Termine waren in weniger als 24 Stunden ausgebucht. „Da haben wir wohl einen Nerv getroffen“, stellte Godewerth fest. Deshalb werde es im nächsten Jahr weitere Termine geben.

Pia Hemmerling in der Physiotherapie des Klinikums. Die Brüste werden liegend abgetastet.
Pia Hemmerling in der Physiotherapie des Klinikums. Die Brüste werden liegend abgetastet. | Bild: Cuko, Katy

Für diese Untersuchungen kommen Daniela Mettvett und ihre Berliner Kollegin Pia Hemmerling extra an den See. Sie gehören zu den bundesweit derzeit 56 Medizinisch-Taktilen Untersucherinnen, sogenannte MTU, die bei „discovering hands“ angestellt sind. Sie alle haben dafür eine neunmonatige Ausbildung absolviert. Für Geschäftsführer Arndt Helf wäre es ein Glücksgriff, wenn sich blinde oder stark sehbehinderte Frauen aus der Region für diesen Beruf gewinnen ließen. Im Moment sind es nur sechs in ganz Baden-Württemberg. Bislang kooperiert das Sozialunternehmen mit rund 130 Frauenarztpraxen und Kliniken in Deutschland, wo die MTUs quasi leihweise zum Einsatz kommen.

Professionelle Anleitung zur Selbstuntersuchung

32 Krankenkassen und alle Privatkassen übernehmen die taktile Vorsorge-Untersuchung, so Helf. Für Selbstzahler kostet sie im Schnitt 55 Euro. „Die Frauen kommen meistens nach einem Jahr wieder“, sagt er. Wobei jede Frau unter dieser professionellen Anleitung auch selbst lernen kann, die Brust systematisch abzutasten, um Veränderungen früh zu erspüren. Pia Hemmerling und Daniela Mettvett hätten den Tumor in Nadja Wills Brust womöglich schon entdeckt, als er nur wenige Millimeter groß war. Nicht erst bei einem Durchmesser von 2,7 Zentimetern.