Wenn Sie sich frei für eine Generation entscheiden könnten, welcher würden Sie gerne angehören? Der Vorkriegsgeneration, die in der Großfamilie Halt fand? Der Nachkriegsgeneration wegen ihrer Aufbruchsstimmung? Den 68-ern und ihrem Gefühl von Freiheit? Oder lieber den unbeschwerten 90ern oder gar der heutige Generation, die nahezu unbegrenzte Möglichkeiten besitzt?

Das ist schwer zu sagen. Ich bin Baujahr 1938, ich sage immer, bin noch Friedensware. Ich habe mich nie einer bestimmten Generation angehörig gefühlt. Ich bin halt aufgewachsen, habe das Leben genommen, wie es ist. Mit meinen Kindern zusammen, die 1970 und 1971 geboren worden sind und dann mit meinen Enkeln, die ab 2000 auf die Welt kamen, erlebe ich die Zeit, in der ich leben darf.

Mussten Sie am Ende des Zweiten Weltkriegs Fluchterfahrungen machen?

Ja, ein bisschen, allerdings Gott sei Dank keine schlimmen. Erst die Evakuierung vom Riesengebirge ins Sudetenland, von dort mit einer deutschen Militärkolonne in Richtung Westen. Das heißt, diese Kolonne sollte eigentlich in Richtung Osten fahren. Meine Mutter ging ihr nach, es herrschte ein völliges Tohuwabohu. Da sprach sie auf einem Opel-Blitz-Lkw einen den Fahrer am Lenkrad an. Meine Mutter fragte: Sag mal, musst du nicht auch zu den Russen? ‚Nein, bei denen war ich schon mal‘, antwortete der. Meine Mutter zog den Fahrer um, sie hatte im Koffer noch Kleidung von meinem Vater. Der Mann warf von seinem Wagen alles runter, was militärisch aussah und lud die Flüchtlinge auf, ist aus der Kolonne ausgeschert und fuhr los.

Wir kamen bis 16 Kilometer vor Dresden. Das war 1945, am 9. Mai. Erst landeten wir also doch noch in der sowjetischen Zone, dort bin ich auch ein bisschen in die Schule gegangen. Mein Vater bekam unsere Adresse aber bald raus, und so kam ich nach Bamberg in die amerikanische Zone, und da ging es mir eigentlich gut.

Worin haben Sie Ihre Prägung für Ihr späteres Berufsleben erfahren?

Das ist keine ganz leichte Frage. Erst wollte ich Journalist werden, dann habe ich aber gemerkt, das ist nicht das Richtige für mich, worauf ich zur Bundeswehr gegangen bin. Nach eineinhalb Jahren war ich geistig so ausgehungert, dass ich dachte, jetzt studierst Du Jura, musst Dich aber beeilen, denn du hast ja rumgebummelt, Bundeswehr, vorher ein Jahr Geschichte studiert und so Zeug. Nach sieben Semestern habe ich das Examen gemacht, dann lernte ich meine Frau kennen. Eine attraktive Frau, die während meines Studiums im Hörsaal und im Lesesaal saß. Ich dachte, die ist es. Nach dem zweiten Examen haben wir geheiratet und ich wusste, jetzt musst du irgendwo Brötchen verdienen. Ich dachte, gehst du in den Staatsdienst und wirst irgendwann Bundeskanzler oder sowas.

… und kamen nach Überlingen ins damalige Landratsamt.

… zu Landrat Schiess, der später Innenminister wurde und dann noch Rechtsanwalt. Das war für mich eine prägende Zeit.

Welche Erinnerung haben Sie an Ihre Zeit im Landratsamt von Überlingen?

Vor allem erinnere ich mich an die Begegnung mit Landrat Karl Schiess während der Kreisreform, die er maßgeblich mit beeinflusst und gesteuert hatte. Er sagte immer, dass wir hier in Überlingen selber entscheiden, und wenn etwas schief läuft, dann übernimmt er die Verantwortung. Bevor entschieden wird, gab er den Auftrag: Fahrt raus, redet mit den Leuten, guckt auch mal ins Gesetz rein, aber redet mit den Leuten. Und da haben wir den Kreis Überlingen umgedreht. Das hat mich geprägt: Redet mit den Leuten. Anderthalb Jahre später war ich Bürgermeister.

Sie waren 30 Jahre jung, als Sie 1969 die Bürgermeisterwahl gewonnen haben. Gegen den Platzhirsch Wilhelm Schelle, mit 37 Stimmen Vorsprung. Sie sind dann in den zwei folgenden Wahlen nahezu unangefochten im Amt bestätigt worden und waren damit 24 Jahre lang Bürgermeister, beziehungsweise Oberbürgermeister von Überlingen. Würden Sie, aus heutiger Sicht betrachtet und mit der Vorstellung, dass Sie noch einmal 30 wären, wieder kandidieren?

Ja. Wenn ich jetzt nochmals 30 wäre, ja, das würde ich nochmals machen.

Was war für Sie der Impuls, als SPD-Mitglied in Überlingen zu kandidieren, in einer CDU-Hochburg – gegen den Amtsinhaber, mit dem Sie dienstlich regelmäßig zu tun hatten? Das muss man sich ja erst mal getrauen.

Als SPD-Mitglied habe ich eine Sitzung im Ortsverein erlebt, unter Vorsitz von Arthur Kirchmaier. Kirchmaier, der im Grunde das Sagen hatte, sagte: ‚Der Schelle wird’s natürlich wieder, aber wir müssen als SPD was zeigen.“ Er sei im Gespräch mit einem Regierungsrat in Ludwigsburg, aber der wolle nicht so richtig. Bei der Heimfahrt Richtung Unteruhldingen, auf Höhe der Klosterkirche Birnau, fiel mir ein: Das machen wir. Das habe ich zu mir gesagt. Ich bin nach Hause gefahren, meine Frau war beim Spargelschälen. Ich bin rein, habe ihr einen Kuss gegeben und gesagt, Jutta, was hältst du davon, wenn wir Bürgermeister in Überlingen werden. Und Jutta: Ja, das machen wir. Und damit begann der Wahlkampf. Ich war fest davon überzeugt, dass ich gewinne. Anders können Sie es auch gar nicht machen.

Ihre Lage sah völlig aussichtslos aus.

Ja, völlig. Die, die mich dann trotzdem wählten, waren zu einem Drittel die Leute, denen Schelle während 24 Jahren Amtszeit mal auf dem Fuß rumgestanden hatte. Das zweite Drittel sagte: Der hat ja überhaupt keine Chance, aber großen Mut – für den machen mir mal ein Kreuz, fertig aus. Und das dritte Drittel stellten die Heimatvertriebenen, die hier noch nicht so ganz integriert waren und in mir, aus Schlesien kommend, einen von sich sahen.

Wie kam der Gemeinderat mit dem unerwarteten Wechsel klar?

Ich hatte vom ersten Tag an keine Schwierigkeiten. Sowohl in der Verwaltung als auch im Gemeinderat nicht. ‚Herr Bürgermeister, die Stadt hat Sie gewählt, wir müssen zusammenarbeiten.‘ Und das haben wir dann gemacht.

Hatten Sie vielleicht einfach einen besonders guten Riecher dafür, dass jetzt ein Generationswechsel anstand?

Der Generationswechsel lag im Grunde in der Luft, so wie bei den Bundestagswahlen, die zeitgleich liefen. Von Kiesinger zur SPD/FDP-Koalition. Da lag schon irgendwie ein Wechsel in der Luft. Ich bin am gleichen Tag gewählt worden, wie in Singen Theopont Diez abgewählt worden ist, amtierender CDU-Bürgermeister. Er hat die Wahlen gegen Friedhelm Möhrle, auch SPD, verloren. Das lag in der Luft, wir wollen mal was Neues machen und mal einen Jungen ran lassen.

Stimmt eigentlich die Anekdote, dass Ihr Vorgänger Schelle in der Annahme, dass er wieder siegen würde, sich schon einen neuen Dienstwagen, einen Mercedes, bestellt hatte?

Ja, der Mercedes stand schon auf dem Werkhof.

Worauf Sie nach der Wahl den Mercedes wieder zurück gaben, um sich eine etwas bescheidenere Dienstkarosse zu kaufen?

Schelle fuhr bisher einen alten Mercedes, einen 220er. Aber auf dem Werkhof, und das war in der Stadt bekannt, stand schon ein neuer Mercedes, ein 250er. Dann wurde ich gewählt, gab den Wagen wieder zurück und fuhr zuerst weiter mit meinem VW Käfer, später als Dienstfahrzeug dann mit einem BMW.

Jeder Mensch in verantwortlicher Position möchte gerne bleibende Werte schaffen. Welche bleibenden Werte haben Sie für Überlingen geschaffen? Seien Sie ganz unbescheiden!

Bleiben wird in Überlingen der Ufersammler, bleiben tut, was nicht in Überlingen steht, aber was von mir auch initiiert worden ist, die Kläranlage in Uhldingen. Und im Grunde auch der Schulbebauungsplan rund ums Gymnasium. Da gab es Leute, die sagten, typisch SPD, jetzt will er enteignen, da wurde ja auch enteignet. Ich erinnere mich an Gemeinderat Stüble damals, der wollte sein Grundstück partout nicht hergeben.

Mit dem Ufersammler haben Sie nicht nur die Promenade im heutigen Bild erschaffen, sondern auch Seezugänge im Badgarten und unterhalb Fünf Mühlen. Es gab aber auch große Projekte, da konnten Sie sich nicht durchsetzen…

Die Autobahn!

Sie waren für eine seenahe Trasse, Ihr Parteifreund, der damalige Bundestagsabgeordnete Rudolf Bindig, dagegen?

Ja. Ich hatte die Planung für die Autobahn als richtig angesehen, dachte aber, Reinhard, sei vorsichtig, weil ich gemerkt habe, dass die Autobahn keiner will. Die wird nicht gebaut. Und dann würde es immer heißen, Reinhard, Naturzerstörer. Deswegen habe ich mich zurückgehalten und gesagt, das soll der Wähler entscheiden. Der hat es auch entschieden. Die Überlinger haben die Autobahn aber nicht verhindert, wie es damals immer hieß. Sondern die Überlinger haben im Keller eine Leiche erschossen, aber sie sind eben mit rauchender Pistole erwischt worden.

Das Projekt war schon gestorben.

Das war im großen politischen Raum schon gestorben. Beim Kurhaus habe ich mich eingesetzt, da bin ich umhergezogen mit meinem Plan, aber die Bürger wollten es nicht.

Da prallten Visionen und Widerborstigkeit der Bevölkerung aufeinander.

Ich habe nicht von Widerborstigkeit gesprochen, das ist Ihr Wort!

Man sagt ja immer, dass es heutzutage schwieriger sei, Großprojekte durchzusetzen. Während man früher die Bürgermeister in Baden-Württemberg als Herrgöttle bezeichnete, weil sie tun und lassen konnten, was sie wollten.

Das waren wir auch. Wenn ich mir vorstelle, mit welchen Planungsunterlagen ich in den Gemeinderat gegangen bin für den Ufersammler. Da hing an der Leinwand eine Strichzeichnung von einem großen Rohr, und das war’s. Und eine Kostenschätzung von 1,7 Millionen.

Und wie viel hat der Ufersammler tatsächlich gekostet?

20 Millionen Mark.

Der Bau der Abwasserentsorgung war eines Ihrer ersten Projekte?

Eine meiner ersten Amtshandlungen war es, nach Oberuhldingen zu fahren, dort war ein Grundstück für unsere Verbandskläranlage schon im Gespräch. Der Gemeinderat von Oberuhldingen saß am Tisch und ich habe mich an die Tür gestellt und gesagt, meine Herren, wir entscheiden heute Abend über den Standort der Kläranlage. Und ich gehe hier nicht weg und Sie kommen nicht raus, bevor Sie sich nicht entschieden haben. Das haben sie akzeptiert.

Aber doch sicherlich nicht ohne Gegenleistung?!

Wie viel wollt ihr?, habe ich gefragt. 50 000, 100 000, will noch einer mehr? Nein, 100 000 ist okay. Akzeptiert.

Als Bürgermeister konnten Sie einfach über solche Summen entscheiden?! Vielleicht war es auch nicht so schlimm, dass Sie sich beim Ufersammler um den Faktor zehn verrechnet hatten. Darum möchte ich gerne nochmals die Frage von vorhin aufgreifen: Wären Sie heute gerne nochmals Bürgermeister?

Jetzt aus der heutigen Perspektive fange ich natürlich nicht mehr an, das ist klar. Aber wenn ich Ihre Frage richtig verstanden habe, wenn ich nochmals 30 wäre, dann würde ich sagen: Ja! Man ist dann natürlich schaffenskräftiger, man weiß, wie es läuft und man weiß, man muss bei Projekten die Bürger rechtzeitig mitnehmen, wie man heute sagt. Das würde ich mir zutrauen. Reden konnte ich eigentlich immer und die Leute auch überzeugen, außer beim Kurhaus, das wollten sie nicht glauben. Den Ufersammler habe ich durchgekriegt und den Schulbebauungsplan und so weiter. Die Regeln sind natürlich heute ganz andere, das gebe ich zu. Und bei der Verkehrssituation fällt mir selber auch nichts ein. Aber mir ist auch 24 Jahre lang nichts eingefallen.

Mancher Firmeninhaber tut sich schwer mit der Abgabe von Verantwortung an die nachfolgende Generation, während es die Unternehmensnachfolger nervt, wenn der Alte dauernd dazwischen quatscht. Wie schwer oder leicht fiel es Ihnen nach der Amtsübergabe im Jahr 1993, sich aus der Kommunalpolitik herauszuhalten?

Damit hatte ich überhaupt keine Probleme. Es war ja mein Wille aufzuhören, weil ich mir gesagt habe, Reinhard, du bist jetzt 24 Jahre Bürgermeister gewesen, du bist dauernd in der Zeitung und so weiter, die Stadt braucht mal ein anderes Gesicht, sie braucht auch einen, der Probleme anders anfängt. Der Abschied vom Amt ist mir völlig leicht gefallen. Ich gehe auch heute in den Rathaussaal rein, da hängt kein Herzblut von mir drin. Das war eine schöne Zeit. Ich bin keinen Tag unlustig ins Büro gegangen.

Sie haben sich über viele Jahre hinweg ehrenamtlich engagiert, im Turnverein, im Roten Kreuz und jetzt bei den Freunden der Landesgartenschau. Sind das unverdächtige Baustellen in der Kommunalpolitik, in denen sich der Alt-Oberbürgermeister unbedenklich einbringen darf?

Rotes Kreuz und Turnverein sind unverdächtig. Bei der Landesgartenschau stand 2013 ein Bürgerentscheid an. Da musste ein Zugpferd her, das konnte man ja nicht den Gegnern überlassen. Da war für mich klar, bei der Sache musst du mitspielen.

Aber warum dann doch bei einem so hoch politischen Thema?

Weil dahinter eine Konzeption stand, mit der Frau Becker (2013 Oberbürgermeisterin) Weitblick für die Stadt bewiesen hat. Das war im Grunde die Diskussion Kurhaus bei mir.

Sie hatten also ein Déjà-vu?

So ungefähr. Da wollte ich mal bei den Gewinnern sein.

Wenn man sich das einmal vorstellt, dass Sie 1969 in einem Überlingen antraten, in dem die Autos noch ÜB-Kennzeichen trugen. Das macht bildhaft deutlich, dass Sie aus einer ganz anderen Zeit kommen. Und ich würde behaupten, dass Sie mit Ihrem Wissen und Ihrem Blick zurück wie kaum ein anderer in der Lage sind, nach vorne zu blicken. Was sehen Sie da?

Eine Stadt Überlingen, die wieder zeigt, wer sie ist. Sie hat im Landkreis an Stellenwert verloren. Ich war Fraktionsvorsitzender im Kreistag, zwar in einer kleineren Fraktion, der SPD. Aber im Grunde war ich einer der Wortführer im Landkreis. Da hat man schon aufgepasst, wenn ich den Mund aufgemacht habe.

Mit Jan Zeitler ist seit Februar 2017 wieder ein SPD-Mann Oberbürgermeister. Hat das Parteibuch bei Bürgermeisterwahlen noch eine Bedeutung?

Für viele sicherlich ja, aber im Großen und Ganzen nein. Als Bürgermeister wählt man die Person.

Was geben Sie Herrn Zeitler mit auf den Weg, damit er 24 Jahre lang in Überlingen gut durchhält?

Er darf den Kontakt zur Bevölkerung nicht verlieren.

Wie gelingt das?

Sie müssen Kontakt zu den Leuten haben, Sie müssen auch sehen, dass ihre Mitarbeiter nicht irgendwo nur Funktionäre sind, also funktionieren, sondern dass das Menschen sind. Das heißt, Sie müssen im Grunde jedes Jahr einmal durch die kommunalen Kindergärten gehen. Sie müssen die Leute auf dem Werkhof mit Namen kennen, in der Stadtgärtnerei die Leute, die das Unkraut zupfen. Neulich sprach mich eine Frau an mit den Worten, sie habe mich immer bewundert, wie ich die Leute begrüßt habe. Das hat sich bei ihr eingeprägt.

Da hat sich, wenn man so will, über Generationen hinweg nichts geändert. Die Leute wollen wahrgenommen werden.

Das glaube ich auch. Im Grunde will sich der Wähler mit dem, den er gewählt hat, identifizieren. Das heißt, er will nicht nur als Stimmvieh angesehen werden.

Zur Person

Reinhard Ebersbach (SPD) wurde am 11. November 1938 geboren. Er war von 1969 bis 1993 Bürgermeister und später Oberbürgermeister von Überlingen. Der in Schlesien geborene Reinhard Ebersbach studierte nach dem Zweiten Weltkrieg in Tübingen Jura. Zunächst arbeitete er als Assistent beim damaligen Landrat des Landkreises Überlingen, Karl Schiess, 1969 trat er gegen den amtierenden Bürgermeister Wilhelm Schelle zur Bürgermeisterwahl in Überlingen an. Er gewann die Wahl mit nur 37 Stimmen Vorsprung. Nach seiner dritten Amtszeit arbeitete er bis zur Pensionierung als Rechtsanwalt.

Dieses Interview ist dem aktuellen Jahrbuch "Leben am See" entnommen, es ist im örtlichen Buchhandel oder im Landratsamt zum Preis von 20 Euro erhältlich. Zentrales Thema der 35. Ausgabe ist das Verhältnis der Generationen zueinander.