Frau Hubmann, wie haben Sie das Zugunglück wahrgenommen?
Nicole Hubmann: Ich habe Musik gehört, mich auf einen schönen Tag gefreut. Ich war mega entspannt. Ich saß zwar im ersten Waggon, aber gegen die Fahrtrichtung, so dass ich den Lkw nicht gesehen habe. Ich frage mich, wie’s dem Lokführer geht, der gesehen hat, wie er auf den Lastwagen zuschießt.
Wo genau saßen Sie?
Hubmann: Im ersten Waggon, in Fahrtrichtung rechts, zum Gang hin.
Es kam zum Zusammenstoß, ein Lastwagenfahrer hatte sich verfahren gehabt. Er stand mit seinem Sattelauflieger auf dem Bahnübergang, 7.45 Uhr, Ihr Regionalexpress fuhr mit hohem Tempo von Überlingen Richtung Radolfzell...
Hubmann: Man sagte uns, dass der Zug mit 90 Stundenkilometern unterwegs war. Dann gab es plötzlich diesen mega Aufprall, einen furchtbar lauten Knall. Ich bin zuerst nach vorne und dann nach hinten geschleudert worden, mit dem Kopf gegen einen Metallgriff. Dann weiß ich nichts mehr, nur noch, dass der Zug stark hin und her geschwankt ist. Ich war mir todsicher, er ist entgleist und kippt jeden Moment um. Ich habe mir noch überlegt, wo lässt Du Dich hinfallen, wenn er kippt. Der Zug war wahnsinnig voll, mit vielen Klappfahrrädern, Koffern, Reisenden.
Es war ein Montagmorgen, warum so viele Fahrgäste?
Anjuschka Krämer: Es waren mehr als üblich, im Zug war eine ganze Schulklasse, vermutlich auf Klassenfahrt. Ich weiß noch, wie ich mich über den Lärm der Schüler aufgeregt habe.
Der Lkw hatte Maisstärke geladen.
Hubmann: Das wussten wir natürlich nicht. Wir haben nur die weiße Wolke gesehen, die durch die Klimaanlage in den Zug kam und alles eingenebelt hat. Ich dachte, es brennt, das sei weißer Qualm oder Asche und ich habe geschrieen: Feuer! Feuer! Aber es kam ja keiner raus, im Durchgang zum nächsten Waggon lagen überall Klappräder und Koffer, das war alles durcheinander. Es war schrecklich. Du warst gefangen. Dieses Gefühl ist das traumatischste für mich. Du bist Dir wie in einem Gefängnis vorgekommen.
Frau Krämer, wie haben Sie den Zusammenstoß erlebt?
Krämer: Ich war auf dem Weg zu einem Seminar nach Tübingen. Auch ich saß im ersten Waggon. Zuerst bin ich gegen den Vordersitz geprallt, dann hinten an meinem eigenen Sitz angeschlagen. Zuerst dachte ich, ich hätte nichts abbekommen. Aber da war der Qualm, also das, was sich später als Maismehl herausgestellt hat. Ich dachte, wenn jetzt noch etwas passiert, sind wir alle tot.
Was haben Sie direkt nach dem Zusammenstoß unternommen?
Krämer: Wir sind alle sitzen geblieben. Dann kam der Schmerz im Kopf und im Brustwirbel. Wir dachten auch, der Zug sei entgleist. Dann kam jemand vom Zugpersonal und schaute nach uns, dann kam die Feuerwehr, die Polizei. Sie haben jeden gefragt, wie’s ihm geht – so nach und nach haben wir dann realisiert, dass wir gerade einen Zugunfall erlitten haben, und dann hat der Schock eingesetzt. Bevor wir aber herausgefunden haben, was da genau passiert ist, waren wir schon alle im Krankenhaus. Dort habe ich dann im Internet nachgelesen.
Wie lange mussten Sie im Zug ausharren?
Hubmann: Das war ewig, eine halbe Stunde würde ich sagen.
Krämer: Das hat ewig gedauert. Wir waren ja alle unter Schock und dachten, jetzt kommt gleich jemand und erklärt uns, was passiert ist. Das war aber nicht so. Wir durften nicht raus, die Türen waren zu.
Warum denn das?
Krämer: Der Zug kam erst mehr als 200 Meter hinterm Bahnübergang und dem Sipplinger Bahnhof zum Stehen, der stand auf der offene Strecke und nicht am Bahnsteig. Da ging’s eineinhalb bis zwei Meter runter auf die Gleise. Irgendwann sind wir dann über eine Planke nach draußen geführt worden.
Hubmann: Ich dachte mir immer, es kann ja nicht brennen, sonst würde uns jetzt schneller jemand hier raus holen. Ich konnte mir aber auch nicht vorstellen, was es mit dem weißen Rauch auf sich hat. Man saß sehr hilflos da. Als es dann endlich aufgehört zu wackeln und wir froh waren, dass der Zug nicht umgekippt war, habe ich unheimlich gefroren und der Schmerz ist in die Halswirbelsäule eingeschossen.
Wie haben Sie sich verletzt?
Hubmann: Ich bin mit dem Hinterkopf gegen den Metallgriff geknallt und bin dann ohnmächtig geworden. Der Griff war nach dem Unfall noch tagelang als Delle in der Schädeldecke erkennbar. Ich konnte mich nicht rühren und habe schon vor der Fahrt ins Krankenhaus eine Halskrause bekommen. Und eine Wärmedecke.
Wie lange dauerte es bis zur Fahrt ins Krankenhaus?
Hubmann: Zirka bis halb neun.
Krämer: Ja, das würde ich auch sagen, so gegen halb neun.
Hubmann: Was ich loben muss, das ist das Helios-Spital, die sind dort Spalier gestanden, haben uns Nummern gegeben, gleich der Chefarzt hat sich um mich gekümmert, ich kam auf die Intensivstation, weil ich Lähmungserscheinungen hatte. Das war top, so ruhig, so strukturiert alles, ich war wirklich baff. Das hätte ich so einem kleinen Krankenhaus nicht zugetraut.
Krämer: 16 Leute sind im Krankenhaus angemeldet worden. Wir beide lagen im selben Zimmer, deshalb haben wir uns kennengelernt. Es lag da noch eine dritte Person, zu der wir aber keinen Kontakt haben. Wir wissen nicht, wer die anderen Opfer sind. Nun suchen wir nach ihnen, damit wir uns weiter austauschen können.
Was wurde bei Ihnen diagnostiziert?
Hubmann: Ein Halswirbelschleudertrauma, eine Schulterprellung und eine Plexusschädigung. Das heißt, Nervenstränge sind bei mir so eingeklemmt worden, dass ich bis heute noch immer keine Kraft auf den linken Arm bekomme. Meine Wirbel stehen so steil, dass ich bei einer reflexartigen Bewegung in Ohnmacht falle. Das passiert mir noch immer etwa alle zwei Wochen. Einen Monat lang hatte ich schwere Sehstörungen und bin dadurch auch gestürzt, was wiederum einen Nasenbeinbruch zur Folge hatte. Ich bin bis heute krank geschrieben und muss schwere Schmerzmittel nehmen. Mit Schmerzen muss ich wohl noch längere Zeit rechnen.
Frau Krämer, wie wurden Sie verletzt?
Krämer: Bei mir hat man auch HWS diagnostiziert und ein Schleudertrauma im Brustwirbel. Außerdem Schwindel und Orientierungserlust. Ich war nur zwei Wochen lang krank geschrieben, habe aber bis heute phasenweise starke Rückenschmerzen. Wenn der Rücken die Schmerzen nicht mehr tragen kann, bekomme ich Kopfschmerzen bis hin zur Übelkeit. Auch jetzt gerade.
Wie hat sich die Deutsche Bahn um Sie gekümmert?
Hubmann: Ach, schon nett. Sie wollten mir eine Traumapsychologin vermitteln. Ich bin froh, dass ich rechtschutzversichert bin, Anuschka ist es nicht. Vielleicht läuft’s bei mir auf einen Vergleich hinaus, die Summe muss dann aber so hoch sein, dass alle Konsequenzen und Folgekosten abgedeckt sind.
Krämer: Ich bin noch nicht so weit. Das war ja bei mir ein Arbeitsunfall, als FSJ-lerin bin ich auf das Seminar geschickt worden, deshalb saß ich im Zug. Meine Personalabteilung versucht gerade, etwas in die Wege zu leiten.
Hubmann: Du hast aber schon auch den Brief hier bekommen? (Zeigt den Brief einer Rechtsanwaltskanzlei, aus dem ersichtlich ist, dass sich die Bahn mit der Haftpflichtversicherung des Lkw-Fahrers grundsätzlich auf die Regulierung von Schmerzensgeldensprüchen einigen konnte.)
Krämer: Nein, den Brief kenne ich nicht.
Hubmann: Das wundert mich. Anjuschka, Du warst doch auch im Krankenhaus, wo alle unsere Personalien von der Polizei aufgenommen wurden. Ich bin damals gleich vernommen worden, noch bevor ich in die Intensivstation kam. Umso wichtiger ist es jetzt, dass wir uns zusammen tun und uns gegenseitig austauschen, uns gegenseitig auf den Sachstand bringen und uns über unsere Rechte informieren.
Fahren Sie wieder mit der Bahn?
Hubmann: Ich bin ein pragmatischer Mensch, es muss. Aber ich werde nie wieder im ersten Abteil sitzen.
Und Sie, Frau Krämer?
Krämer: Die ersten drei Wochen bin ich komplett dem Zug ausgewichen, aber ich muss fahren. Das hat sich dann wieder eingekriegt.
Hubmann: Ich will jetzt noch gerne einen Notarzt zitieren. Als klar war, dass es sich bei dem weißen Qualm um Speisestärke handelt, sagte er, wir sollen froh sein, dass es kein Kalk war. Zwei Atemzüge, und wir wären tot gewesen. Es hätte in der Mehlwolke auch ein einziger Funke gereicht, und alles wäre explodiert. Ich bin wirklich dankbar, dass nicht mehr passiert ist. Das sage ich mir immer, wenn die Schmerzen wieder kommen.
Fahrgäste gesucht
- Sie waren Fahrgast im Interregio-Express, der am 15. Oktober in Sipplingen mit einem Lastwagen kollidierte, und haben weitere Fragen zu dem Geschehen? Nicole Hubmann und Anjuschka Krämer planen die Gründung einer Interessens-Gemeinschaft. Kontakt über Facebook direkt mit den Frauen, oder über die SÜDKURIER-Lokalredaktion Überlingen, stefan.hilser@suedkurier.de
- Nicole Hubmann arbeitet als Schulsozialarbeiterin. Sie ist 43 Jahre alt und wohnt in Überlingen. Anjuschka Krämer absolviert derzeit ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in Friedrichshafen. Am Unglückstag war sie mit dem Zug auf dem Weg zu einem FSJ-Seminar. sie ist 19 Jahre alt.