Ein halbes Jahr nach dem Zugunglück von Sipplingen ist der Fall noch nicht endgültig aufgearbeitet. Wohl zieht der Einsatzleiter des Rettungsdienstes eine positive Bilanz, was die Versorgung der Verletzten betrifft. Doch mindestens zwei Opfer aus Überlingen tappen nach wie vor im Dunkeln bei der Frage, was ihre Schmerzensgeldforderungen betrifft, ob sie die Einzigen waren, die so schwer wie sie verletzt wurden, oder welches Trauma andere Fahrgäste davon trugen.
Wie durch ein Wunder keine Toten
Nicole Hubmann und Anjuschka Krämer fühlen sich ein Stück weit alleine gelassen. Am 15. Oktober 2018, einem Montagmorgen, waren sie mit dem Interregio-Express auf dem Weg in Richtung Singen. Um 7.46 Uhr kollidierte der Zug mit einem Lastwagen, weil sich der Lastwagenfahrer im Umleitungs-Chaos auf der B 31 verfahren hatte und bei heruntergelassener Schranke auf den Gleisen am Bahnübergang in Sipplingen stand. Wie durch ein Wunder gab es keine Toten. Über den Grad der Verletzungen gibt es jedoch unterschiedliche Ansichten. Deshalb suchen Hubmann und Krämer andere Fahrgäste, um sich auszutauschen zu können.

Mit welchem Tempo fuhr der Zug in die Unfallstelle? Wie viele Fahrgäste waren im Zug, und für wie viele wäre er zugelassen gewesen? Welche Personenschäden sind mittlerweile bekannt? Wer trägt die entstandenen Kosten? Das sind Fragen, die sich nicht nur die verletzten Fahrgäste aus dem Unglückszug stellen.
Bahn: Nicht zuständig
Auf entsprechende SÜDKURIER-Anfrage verwies die Polizei an die Staatsanwaltschaft, die wiederum gab auch auf wiederholte Anfragen keine Antworten. Auch von der Bahn ist nichts zu erfahren: Die Pressestelle der Deutschen Bahn AG in Stuttgart verwies an das Eisenbahn-Bundesamt Bonn und von dort wurde an die Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung verwiesen. Deren Antwort lautete: Nicht zuständig! Gemäß der "Eisenbahnsicherheitsrichtlinie" müsse von ihnen keine formale Untersuchung eingeleitet werden, nur in schweren Fällen. "Ein schwerer Unfall ist eine Zugkollision oder Zugentgleisung mit mindestens einem Todesopfer oder mindestens fünf schwer Verletzten oder mit beträchtlichem Schaden für die Fahrzeuge, Infrastruktur oder Umwelt."
Rettungswache: Ein Großschadensereignis
Matthias Rieger, Bereichsleiter in den Rettungswachen Überlingen und Salem, leitete damals den Rettungseinsatz. Nach seiner Information gab es keine Schwerverletzten. Aus Sicht der Retter handelte es sich um ein "Großschadensereignis", das genauer analysiert werde, um Ableitungen für künftige Fälle ziehen zu können.
"Tut wirklich nichts weh?"
Als um 7.48 Uhr der Alarm einging, war von 100 potenziell verletzten Personen die Rede, 99 Personen im Zug und der Lastwagen-Fahrer. Sie seien darüber informiert worden, dass der Lkw-Fahrer verletzt ist "und im Zug scheinbar niemand". Entsprechend zurückhaltend seien Rettungskräfte nach Sipplingen beordert worden: Ein Notarztfahrzeug, zwei Rettungswagen, ein Krankenwagen, Einsatzleiter Rieger, der Leitende Notarzt, die Sondereinsatzgruppe der DRK-Ortsvereine Sipplingen und Überlingen – "insgesamt 25 bis 30 Personen", rechnet Rieger, dazu Feuerwehr, Polizei und Bundespolizei.
Bei einer ersten Abfrage im Zug habe sich niemand als "verletzt" gemeldet. Darüber habe man sich gewundert und eine zweite Abfrage gestartet, wieder negativ. Als er vom Zugführer die Information erhielt, dass er "mit 70 bis 100 Stundenkilometern eine Vollbremsung einlegte", sei seine Skepsis weiter gestiegen und man habe jeden einzelnen Passagier gefragt. "Tut Ihnen wirklich nichts weh?" Daraufhin hätten sich sechs Personen gemeldet, die sofort aus dem Zug geführt wurden. Die anderen Fahrgäste mussten längere Zeit warten.
Die Polizei habe nach gut einer Stunde, ab 8.56 Uhr, den Zug evakuiert, berichtet Rieger. Die Feuerwehr hatte Rampen aufgebaut, als Ersatz für den nicht vorhandenen Bahnsteig. Während die Fahrgäste aus dem Zug geführt wurden, meldeten sich dann weitere 15 Personen mit Schmerzen. Rieger: "Das ist typisch und kommt bei jedem kleinen Unfall vor. Die Leute sagen zuerst, dass ihnen nichts weh tut. Wenn sie dann aufstehen und das Adrenalin abfällt, steigen die Schmerzen dann eventuell doch." Von den 21 Patienten seien letztlich nur 15 auf den Vorschlag zur Aufnahme ins Krankenhaus eingegangen, und davon wiederum blieb nach Riegers Erkenntnis nur eine Person stationär, alle anderen seien nach ambulanter Untersuchung und Dokumentation ihrer Verletzungen entlassen worden. Rieger: "Es waren wirklich alle nur minimal verletzt." Nach seinen Aufzeichnungen wurde der erste Patient um 9.10 Uhr ins Krankenhaus gefahren, der letzte um 9.30 Uhr.

70 Minuten im Zug gewartet
Dass die Fahrgäste ab Alarmierung um 7.48 Uhr weitere 70 Minuten im Zug warteten, habe organisatorische Gründe. Bei Unfällen mit vielen potenziell Verletzten besteht die Herausforderung darin, alle Personen einzugruppieren: Wer ist tot, wer muss sofort behandelt werden, wer kann warten, wer ist unverletzt? Der Zugführer habe richtig gehandelt, als er die Türen geschlossen hielt. "Ich vermute, dass sie dazu angewiesen sind", sagte Rieger. Bei Busunfällen auf der Autobahn bestehe jedesmal die Gefahr, dass Patienten im Schock entschwinden. Bei Bahnunfällen müsse immer auch mit der Gefahr entgegenkommender Züge oder herunterhängender Oberleitungen gerechnet werden. "Im Zug war es einfach, alles zu bündeln. Die Leute waren auch sehr verständig, keiner schimpfte."
Nicole Hubmann arbeitet als Schulsozialarbeiterin. Sie ist 43 Jahre alt und wohnt in Überlingen. Anjuschka Krämer absolviert derzeit ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in Friedrichshafen. Am Unglückstag war sie mit dem Zug auf dem Weg zu einem FSJ-Seminar. sie ist 19 Jahre alt.
Fahrgäste gesucht
- Sie waren Fahrgast im Interregio-Express, der am 15. Oktober in Sipplingen mit einem Lastwagen kollidierte, und haben weitere Fragen zu dem Geschehen? Nicole Hubmann und Anjuschka Krämer planen die Gründung einer Interessens-Gemeinschaft. Kontakt über Facebook direkt mit den Frauen, oder über die SÜDKURIER-Lokalredaktion Überlingen, stefan.hilser@suedkurier.de