Als am Himmel über Überlingen zwei Flugzeuge kollidierten und anschließend 71 Menschen, darunter 49 Kinder, den Tod fanden, war Anabel Platalla (25) aus Marburg gerade mal acht Jahre alt. Mit 15 Jahren sah sie dann eher zufällig im Jahr 2009 den Fernsehfilm „Flug in die Nacht“ über das tragische Unglück. Das habe sie so berührt, dass sie das Thema nicht mehr losließ, erzählt sie.
Anabel Platalla befasst sich bereits in jungen Jahren intensiv mit dem Thema
Sowohl das Leid der Menschen als auch die verhängnisvollen Umstände beschäftigten sie so intensiv, dass sie das Buch „Kollision aus heiterem Himmel“ von Ariane Perret las und sich anschließend bei einem Praktikum über die Arbeit der Flugsicherung in Langen informierte. „Noch einmal in einer anderen Dimension wurde mit dort bewusst, welche grausamen Verkettungen zu dieser Tragödie führten“, sagt Anabel Platalla.

Begegnungen mit Menschen vom Verein „Brücke nach Ufa“
Inzwischen steht die junge Frau kurz vor dem Abschluss ihres Studiums der Evangelischen Theologie an der Universität Marburg. Als Schwerpunkt ihrer mündlichen Prüfung im kommenden Jahr hat Platalla das Thema „Erinnerungskultur“ gewählt. Zur Vorbereitung hatte sie Kontakt mit dem Verein „Brücke nach Ufa“ aufgenommen, im Frühjahr die Gedenkstätten in Überlingen und Owingen besucht sowie Gespräche mit mehreren Vertretern des Vereins geführt.
„Die Begegnungen mit den Menschen vom Verein ‚Brücke nach Ufa‘ haben mir sehr, sehr viel geholfen“, resümiert Anabel Platalla ihren dreitätigen Aufenthalt. „Ich habe genau diese Einblicke bekommen, die ich mir erhofft hatte“, sagt sie und fügt an: „Ich war zutiefst gerührt, dass die Menschen mir so offen gegenüber traten, obwohl sie mich zuvor ja überhaupt nicht gekannt hatten.“
Vereinsmitglieder beeindruckt von Empathie und Engagement der jungen Frau
Warum dies vielleicht so war, beschreibt Andreas Martin aus Nesselwangen. Er sagt, ihn und alle anderen, mit denen die Studentin später sprach, habe die Authentizität ihres Briefes überzeugt. In fünf handschriftlich verfassten Seiten hatte sich Anabel Platalla an den Verein gewandt. Siegfried Wehrle begleitete die junge Frau zu den Absturzstellen sowie den verschiedenen Gedenkstätten und gab ihr Informationen aus erster Hand. Auch Kriminalkommissar Reinhard Martin aus Hohenbodman unterhielt sich lange mit Anabel Platalla und konstatierte: „Einen jungen Menschen, der in diesem Alter so viel Empathie und Klugheit beweist, trifft man sehr, sehr selten.“
Verarbeitung des Unglücks dauert an
Der Prozess der Verarbeitung des Unglücks werde für die Angehörigen nie ganz abgeschlossen sein, ist die Theologiestudentin überzeugt. „Eine Narbe wird bei ihnen immer bleiben, es wird für sie nie wieder so sein wie vor dem Unglück.“ Für die Betroffenen sei es sehr wichtig, bei Bedarf die Fundstellen der Opfer aufsuchen zu können, sagt sie. „Sie haben die Vorstellung, dass deren Seelen hier in den Himmel aufgestiegen oder sogar noch da sind.“ Umso wichtiger sei es für die Angehörigen, dass sie immer die Möglichkeit haben, auch die Apfelplantagen an der Unglücksstelle zu betreten.
Kontakt mit Angehörigen macht Dimension des Unglücks deutlich
Diese dauerhaften Folgen sieht sie auch für Überlingen und die Beziehung der Bevölkerung, die mit viel Glück von einer großen Katastrophe für die Stadt selbst verschont geblieben sei. Mit Vertretern der Stadt wolle Anabel Platalla das Thema nicht erörtern, sagt sie. Dazu sei sie über Details viel zu wenig informiert. Eines glaubt sie allerdings bei ihrem kurzen Aufenthalt festgestellt zu haben. „Richtig bewusst ist die ganze Dimension des Unglücks allerdings vor allem denen, die einmal unmittelbaren Kontakt zu den Angehörigen gehabt hatten.“
„Erinnerung braucht feste Intervalle“
Die junge Theologiestundentin ist überzeugt: „Trauerarbeit ist individuell ganz unterschiedlich. Doch die Erinnerung braucht feste Intervalle.“ Zum Beispiel in Form des Gedenkens, dem die „Brücke nach Ufa“ seit dem Unglück Jahr für Jahr am Abend des 1. Juli einen Rahmen gibt – wie auch am kommenden Montag um 20 Uhr (siehe rechts). Dieses Gedenken und Begegnungen mit den Angehörigen dürften auch nicht von weltpolitischen Konstellationen beziehungsweise schwierigen Beziehungen zu anderen Ländern beeinträchtigt werden, betont Anabel Platalla.
Verein organisiert Gedenkfeier
- Am Montag, 1. Juli jährt sich das Flugzeugunglück zum 17. Mal. Auch diesmal versammeln sich Mitglieder des Vereins „Brücke nach Ufa“ und interessierte Bürger zu einer Gedenkfeier an der Absturzstelle bei Brachenreuthe. Um 20 Uhr gedenken sie mit einer Ansprache und dem Ablegen von Blumen der Tragödie, die sich am 1. Juli 2002 ereignete. Die Zeremonie wird musikalisch umrahmt von Jens Eloas Lachenmayr von den Neuen Barden. „Die Öffentlichkeit ist herzlich dazu eingeladen“, betont der Verein.
- Einen Themenabend veranstaltet der Verein unter dem Motto „Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft: Aus der Geschichte lernen“ am 25. Oktober um 18 Uhr im Museumssaal – mit zwei Vorträgen und musikalischen Darbietungen. Zum einen geht es um deutsche Migrationen nach Russland, zum anderen um die kulturelle Vielfalt in Baschkortostan. Das Projekt steht im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“. Die „Brücke nach Ufa“ hofft aufgrund der aktuellen Migrationsdebatte auf großes Interesse.
- Ihren Prüfungsschwerpunkt legt Theologiestudentin Anabel Platalla wie folgt: „Mein Thema soll zunächst auf den theoretischen Unterbau der ‚Erinnerungskultur‘ Bezug nehmen. Am Ereignis der Flugzeugkollision von Überlingen möchte ich anschließend theologisch erörtern, wie Erinnerung im Falle dieser Katastrophe aufrechterhalten und weitergegeben wird. Ein besonderer Fokus liegt hierbei auf der Gedenkstättenarbeit sowie der Begehung von Jahres- und Gedenktagen.“