Überlingen – Die Nacht vom 1. auf den 2. Juli 2002 gehört zu den finstersten in der Geschichte der Stadt Überlingen am Bodensee. Um 23.35 Uhr stießen in elf Kilometern Höhe eine Passagiermaschine der Baschkirian Airline mit einem Frachtflieger des Paketdienstleisters DHL zusammen. Dabei kamen 71 Menschen ums Leben, darunter 49 Kinder, die in die Ferien nach Spanien flogen mit Ziel Barcelona. Der Stoff füllte unzählige Zeitungsseiten, der Südwestrundfunk verfilmte die Katastrophe von Überlingen mit dem Fernsehfilm „Flug in die Nacht“ (2009). Jetzt schlägt Hollywood zu mit dem Kinofilm Aftermath, der im April in die amerikanischen Kinos kommen soll.
Es ist der Stoff, der Hollywood elektrisieren muss. Das Flugzeugunglück bietet dabei die Vorlage, die eigentliche Katastrophe ereignete sich anderthalb Jahre später: Es war die Bluttat, die der Hinterbliebene Vitalij Kalojew an dem Skyguide-Fluglotsen Peter N. verübte, der für das Unglück verantwortlich gemacht wurde. Der Ossete Kalojew hatte bei dem Flugzeugunglück seine Frau Swetlana (42), seinen Sohn Konstantin (10) und seine Tochter Diana (4) verloren.
Bislang ist im Internet nur ein zweieinhalbminütiger Trailer zu sehen, der ahnen lässt, dass Hollywood-Regisseur Elliott Lester (47) die Dramatik des Geschehens vor fast 15 Jahren in seiner Geschichte verarbeitet hat. Action-Darsteller Arnold Schwarzenegger (“Terminator“) spielt darin Roman, einen Familienvater im US-Bundesstaat Ohio, dessen Frau und seine Tochter bei einem Flugzeugzusammenstoß ums Leben kommen. Wie damals Kalojew sucht auch Roman in den Trümmern der Absturzstelle nach seinen Liebsten. Schuld an dem Unglück ist auch im Film ein Fehler bei der Flugsicherung, deren Verantwortliche er vergeblich zur Rede stellen will. Auch Roman alias Schwarzenegger hat das Unglück aus der Bahn geworfen; er sinnt auf Rache.
Kalojew hatte den Fluglotsen Peter N. im Frühjahr 2004 auf der Terrasse seines Hauses in Zürich Kloten mit zwölf Messerstichen getötet. Vor Gericht gab er später an, er habe den Lotsen zur Rede stellen wollen und ihn im Affekt erstochen. Als er ihm Bilder seiner beim Absturz getöteten Familie zeigen wollte, habe Peter N. ihm diese aus der Hand geschlagen. Er habe das Messer aus der Tasche gezogen und mehrfach zugestochen. Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte Kalojew im Oktober 2005 wegen verminderter Schuldfähigkeit zu fünfeinhalb Jahren Haft. Als er 2007 vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen wurde und nach Nordossetien zurückkehrte, wurde er als Held gefeiert und zum stellvertretenden Minister für Bau und Architektur ernannt. Dort ging er vor kurzem in den Ruhestand.
Mit dem Film gerät die Tragik der Ereignisse im 15. Jahr nach dem Flugzeugunglück wieder schmerzhaft in Erinnerung. Die Flugsicherung Skyguide, die damals wegen dem Unglück massiv in der Kritik stand, erklärte auf Nachfrage, die Existenz des Films sei dem Unternehmen „seit einigen Wochen bekannt. Wir wurden aber zu keinem Zeitpunkt von den Produzenten kontaktiert oder waren sonst involviert.“
In Überlingen und der Gemeinde Owingen, wo die Bevölkerung wegen herabfallender Trümmer nur um Haaresbreite selbst der Katastrophe entging, denkt man bis heute mit Schrecken an die Ereignisse nach dem Flugzeugabsturz am Bodense. Jürgen Rädler, der russisch spricht und den Freundeskreis „Brücke nach Ufa“ ins Leben rief, hält gemeinsam mit anderen Mitgliedern engen Kontakt zu den Hinterbliebenen, die zumeist in Baschkirien leben. Der Film werde in Russland mit großer Aufmerksamkeit wahrgenommen, sagt Rädler gegenüber dem SÜDKURIER.
Auch Vitalij Kalojew hat von dem Film gehört. Gegenüber der Zeitung Moskauer Komsomoletz sagte Kalojew unlängst, er sei von den Fimemachern nicht konsultiert worden. „Die Hauptsache ist, dass nichts verfälscht wird.“ Er erwarte eine actiongeladene Verfolgungsjagd. So war es allerdings in der Realität nicht. Kalojew war nach der Bluttat in sein Hotelzimmer zurückgegangen, wo er sich widerstandslos festnehmen ließ. Die Erinnerung sei bis heute übermächtig, sagt Kalojew gegenüber der Zeitung. „Es gibt kein Entrinnen.“
Bitter ist das Schicksal der Familie des getöteten Fluglotsen Peter N. Seine Frau und die Kinder verloren einen geliebten Menschen, Ehemann und Vater. Die Witwe ging mit ihren Kindern zurück nach Dänemark.
Viele Hinterbliebenen der anderen Absturz-Opfer hatten die Anteilnahme und Hilfe der Überlinger mit Dankbarkeit aufgenommen. Die Gedenkfeiern, die nicht nur alle fünf Jahre am Absturzort veranstaltet wurden, und die guten Beziehungen zu Überlingern hatten ihren Teil an der Verarbeitung der Katastrophe beigetragen. Jetzt hoffen die Hinterbliebenen, dass die Landesregierung zum 15. Jahrestag wieder eine Begegnung ermöglicht, indem es eine Einladung ausspricht. Das wäre schon wegen der Visumspflicht wichtig. Doch eine Anfrage dieser Zeitung beim Stuttgarter Staatsministerium blieb unbeantwortet.
.In diesem Extrablatt wurde die Überlinger Bevölkerung am Morgen nach dem Unglück informiert:
http://www.sk.de/exklusiv
Dateiname | : | Original SÜDKURIER-Extrablatt von 2002 |
Datum | : | 21.02.2017 |
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