Es ist wie eine Zeitreise in eine tragische und schmerzhafte Vergangenheit. Eine Vergangenheit voller Kummer, Leid und Verlust. Sobald die heute 92-jährige Edeltraud Ruppe, die seit 2009 in Überlingen lebt, die Bilder der Ukraine-Flüchtlinge sieht, dann fühlt sie sich in ihre eigene Kindheit – oder besser Jugend – zurück versetzt. Und wenn sie von den Ukraine-Flüchtlingen spricht, dann rutscht sie, ohne es zu merken, immer wieder ins „Wir“. Auch nach 76 Jahren steht die Flucht tief in ihrer Seele geschrieben.
Familie flieht ins Riesengebirge
Edeltraud Ruppe, damals noch Ellermann, ist 16 Jahre alt, als sie ihre Heimat Breslau, das heutige Wrocław, verlassen muss: Am 9. Mai übergeben Militärbehörden der Roten Armee die Stadt an die Volksrepublik Polen. Die deutsche Bevölkerung wird vertrieben. Die Familie flieht ins Riesengebirge, genauer: nach Agnetendorf. Dort hat der Vater ein Grundstück.
In der direkten Nachbarschaft lebt der Schriftsteller Gerhart Hauptmann. „Wir waren mit der Familie bekannt“, sagt Edeltraud Ruppe. Hauptmann residiert im Haus Wiesenstein. Dessen russischer Verwalter organisiert im Jahr 1946 die Flucht von Edeltrauds Familie nach Görlitz in einem Lastwagen. Zudem dürfen in dem Sonderzug, der den verstorbenen Gerhart Hauptmann später in den Westen bringt, ein paar Kisten mit den Habseligkeiten der Familie Richtung Westen reisen. „Auf diese Weise habe ich meine Aussteuer gerettet“, sagt Ruppe.

In ihren Händen hält sie, während sie erzählt, eine alte Straßenbahnkarte, eine Karte vom Rathaus Breslau und einen KdF-Gutschein für die Rundfahrt durch Breslau. Ein Leben, eine Vergangenheit, sorgsam aufbewahrt in einigen Klarsichthüllen. Das, was von der Kindheit geblieben ist, bevor die Polen kamen und die Eltern ihre Kinder im Wald versteckten.
Seniorin fallen Parallelen zur Ukraine auf
Die Jahreszeit der Flucht war die, in der sich auch die Menschen aus der Ukraine auf den Weg machen mussten. „Es war ein bitterkalter Winter. Es gab unendlich viel Schnee. Die Frauen haben ihre Kinder auf dem Arm getragen. Und ein wenig Hab und Gut, das, was man im letzten Moment noch zusammenraffen konnte“, sagt die Seniorin. Die Soldaten, die einmarschierten, seien ganz jung gewesen, teils ohne Ausbildung und Orientierung. So, wie das auch von einigen russischen Soldaten, die nun in der Ukraine kämpfen, immer wieder berichtet wird. Die Bilder der überfüllten Züge wecken ebenfalls Erinnerungen: „Von Görlitz fuhren wir mit der Bahn im Viehwagen bis Hameln an der Weser. Der Bahnhof war vollkommen überfüllt und der Zug auch, aber es wurden immer noch weitere Leute reingedrückt.“
„Es war ein bitterkalter Winter. Es gab unendlich viel Schnee. Die Frauen haben ihre Kinder auf dem Arm getragen.“Edeltraud Ruppe, damals Ellermann
Ellermanns finden Obdach und Arbeit
In Hameln hat die Familie Glück. Auf einmal findet die 16-jährige Edeltraud sich in einer anderen Welt wieder, einer „zauberhaften Stadt, und es war Frieden und man ist am Sonntag spazieren gegangen“. Ein wenig unwirklich fühlt sich das damals schon an. Sie kommen beim Leiter der Wesermühlen in einem riesigen, idyllischen Haus unter, arbeiten auf den Feldern. Die aufnehmende Familie ist großzügig und liebevoll, teilt bereitwillig alles mit ihnen. „Wir waren faktisch integriert und es ist wunderbar, was die Familie für uns getan hat“, sagt Edeltraud Ruppe heute. So, wie nun auch viele Menschen viel für die Flüchtlinge aus der Ukraine tun.
Was war für Ruppe damals als Flüchtling wichtig? Was brauchen die Menschen, die aus der Ukraine, die nach Deutschland kommen? „Dass den jungen Müttern die Angst genommen wird. Dass sie sich im Kreise derer, die sie treffen, beschützt fühlen können, dass sie die Entscheidungen nicht alleine treffen müssen“, sagt sie und fährt fort: „Wenn ich diese Bilder sehe, empfinde ich eine unendliche gemeinsame Basis. Und ich habe immer das Gefühl: Ich bin auch eine von ihnen.“