Als über Aleppo die ersten Bomben fielen, sagte Ahmad Al Hamidi zu seiner Frau, dass nach ein, vielleicht zwei Wochen alles überstanden sei. Das war ein Trugschluss. Der Bürgerkrieg dauerte Jahre, ein Großteil der nordsyrischen Stadt Aleppo, in der Al Hamidi 1982 zur Welt kam, wurde zerstört.
Jetzt sitzt der 42-Jährige in einem Café in Friedrichshafen. Er kandidiert für den Deutschen Bundestag. Bündnis 90/Die Grünen haben ihn im Wahlkreis Bodensee nominiert. Ahmad Al Hamidi setzte sich bei der parteiinternen Wahl im Oktober gegen die Kommunikationsdesignerin Christine Bernard durch. Falls er in den Bundestag gewählt würde, wolle er sich besonders für die Themen Umweltschutz, nachhaltige Wirtschaft und den Gesundheitsbereich stark machen. Platz 32 von 38 auf der Landesliste klingt nicht verheißungsvoll, dennoch hat er sich dazu entschieden, Zeit und Engagement in den Wahlkampf zu investieren. „Unser Leben braucht Mut“, sagt er im Gespräch.
Gedanklich zurück nach Aleppo
Zunächst eine Erinnerung an Aleppo: „Als eine Bombe 50 oder 100 Meter von uns entfernt eingeschlagen hat, konnten wir uns nur noch in eine Ecke des Raumes flüchten“. Man habe ihnen gesagt, wenn ein Haus einstürzt, dann sei man in den Ecken sicherer als an den Außenwänden. Ahmad Al Hamidi gab nach dem Einschlag dem Drängen seiner Frau nach: „Unsere Kinder sind wichtiger!“ Die Erzieherin und der Rechtsanwalt packten zwei Rucksäcke. Ihren damals etwa fünf Monate alten Sohn und ihre etwa 18 Monate alte Tochter banden sie sich in Tüchern auf die Brust und begaben sich auf die Flucht. Das war Anfang 2015, noch bevor Angela Merkel ihr berühmtes Willkommen ausgesprochen hat.
Mittlerweile sprechen seine Kinder schwäbisch, berichtet Ahmad Al Hamidi. Seine Familie macht ihn stolz und gibt ihm Halt. Sie sind ein gelungenes Beispiel von Integration. Ihm sei natürlich bewusst, dass bei der Aufnahme von Migranten in Deutschland nicht alles rund läuft. „Aber ich verstehe nicht, warum die Flüchtlingsfrage so ein Schwerpunkt in diesem Wahlkampf ist. Unser Land hat andere Probleme.“ Er nennt den Krieg in der Ukraine und geopolitische Herausforderungen, den nötigen Transfer in der Automobilindustrie, die überfällige Digitalisierung oder den wachsenden Pflegenotstand.
Al Hamidi arbeitet als Jurist im öffentlichen Dienst. Er ist im Amt für Migration und Integration in der Leistungsverwaltung beschäftigt. Der 42-Jährige sagt: „Wir brauchen Migranten aus demografischen Gründen.“ Der Fachkräftemangel lasse sich sonst nicht beheben. Weiter sagte er: „Das Problem in Deutschland sind nicht die Flüchtlinge.“ Wenn rechtsgerichtete Parteien das behaupten, dann sei dies „demagogisch“, findet Al Hamidi. „Wir sagen, wir brauchen pro Jahr 200.000 bis 300.000 Migranten. Dann müssen wir unsere Infrastruktur entwickeln: Wohnungen, Kindergartenplätze. Das Problem sind nicht die Flüchtlinge, sondern unsere Infrastruktur.“
Die politische Arbeit bei den Grünen ist nicht sein einziges Ehrenamt. Al Hamidi engagiert sich als Gewerkschafter bei Verdi, als Vater im Kinderschutzbund, und als Christ in der evangelischen Erlöserkirche. „Mein Herz ist ein soziales Herz. Anderen Leuten zu helfen, ist ein Lebensprinzip für mich.“ Die Altersarmut ist so ein Stichwort. „Wenn jemand 30 oder 40 Jahre gearbeitet hat und dann nur 600 Euro Rente bekommt, finde ich es ungerecht. Man muss das Sozialsystem verbessern.“ Auf die Frage, wie er zur Parteipolitik kam: „Vielleicht kann ich noch mehr machen, indem ich meine Stimme lauter werden lasse. Wie kann ich das machen? Mit der Politik.“
Orientierungslos in Ungarn
Tränen schießen Al Hamidi in die Augen, wenn er über seine Flucht berichtet. Sie führte die junge Familie über die Türkei und Griechenland nach Ungarn. Aus Angst, von der ungarischen Polizei aufgegriffen und zurückgeschickt zu werden, marschierten sie nachts. Die Akkus in ihren Handys waren leer, sie verloren den Anschluss an andere, schnellere Flüchtlinge, und so irrten sie orientierungslos bei Kälte durch den Wald, wie Al Hamidi berichtet. „Ich wusste nicht, ob mein Sohn die Nacht überleben wird.“ Bei Tagesanbruch entdeckten sie im aufgeweichten Boden Fußspuren und folgten ihnen. „Gott sei Dank erinnern sich meine Kinder an die Geschichte nicht.“
Mut, sagt Al Hamidi, habe ihm seine Mutter mit auf den Lebensweg gegeben. Auf die Frage, warum er sich trotz der eher bescheidenen Chance, in den Bundestag gewählt zu werden, der Mühe des Wahlkampfs unterzieht, antwortet er aus der Lebenserfahrung heraus: „Wenn wir alle vorher rechnen, ob es klappt, dann machen wir viele Dinge nicht. Unser Leben braucht Mut. Ich kämpfe für meine Werte. In unserem Land herrscht Demokratie. Vielleicht mache ich ja auch anderen Mut: Wenn Ahmad das macht, motiviert es vielleicht andere Leute, für ihr Leben zu kämpfen. Unsere Demokratie gibt allen Leuten eine Chance.“