Richter und Staatsanwaltschaft sind verdutzt. Dass Perspektiven auf eine Tat abweichen, ist nicht ungewöhnlich. Dass der Angeklagte seine Unschuld mit einer gänzlich anderen Schilderung des Ablaufs beteuert, scheint sie aber zu verwundern. „Das vorläufige Strafmaß war eigentlich auf ein Geständnis ausgelegt“, richtet sich Amtsrichter Alexander von Kennel an den mutmaßlichen Täter.
Laut Anklageschrift soll der 53-Jährige an einem Abend im August vergangenen Jahres an der Kreuzung Sankt-Johann-/Jörg-Zürn-Straße in Überlingen einen faustgroßen Stein nach einem 33-Jährigen geworfen haben. Eineinhalb Meter lagen wohl zwischen ihnen. Intuitiv duckte sich der Mann und der Gegenstand landete hinter ihm auf dem Boden. Die Anklage vor dem Amtsgericht Überlingen lautet daher: versuchte schwere Körperverletzung.
Widersprüchliche Aussagen
Nach einer Bestätigung des Tatverlaufs gefragt, erwidert der Angeklagte: „Das stimmt überhaupt nicht, es ist eine Lüge.“ Der Geschädigte habe ihn mit dem Handy gefilmt, er habe nur gewollt, dass er aufhört. Er habe sich lediglich eine Kiste mit Artikeln zum Verschenken angesehen. Angetroffen wurde der 53-jährige Mann nach Aussage des Zeugen allerdings in der Garage, hinter der Kiste. „Ich habe meinen Sohn gesucht“, gibt der Angeklagte zu Protokoll. Nachdem er angesprochen worden sei, ergriff er die Flucht. Als ihm der Zeuge folgte, bückte er sich – aber seiner Aussage nach, nicht nach einem Stein, sondern seinem Autoschlüssel.
Für den Geschädigten stellt sich die Sache anders dar. Seine Mutter rief ihn an, jemand schleiche um ihr Haus, ob er kommen könne. So berichtet es der 33-jährige Zeuge und Geschädigte der Tat. Direkt nach dem Anruf informierte er die Polizei. Nachdem er den potenziellen Einbrecher gefragt habe, was er hier suche, ob er einbrechen wolle, lief der Angeklagte davon. Hätte er sich wirklich nur die Kiste angesehen, wäre er nicht weggelaufen, argumentiert die Staatsanwaltschaft. Der 33-Jährige folgte ihm. Plötzlich bückte sich der Verfolgte, holte aus und warf noch in geduckter Position einen größeren Gegenstand auf seinen Verfolger, so der Zeuge.
Schulden und polizeibekannter Sohn
Zwei Kinder habe er, sagt der Angeklagte, eine erwachsene Tochter und einen zwölfjährigen Sohn. Der sei schon polizeibekannt, sagt sein Vater aus, weil er seine Kreditkarte gestohlen und im Internet 7000 Euro ausgegeben habe. Für den Angeklagten viel Geld. 1600 Euro netto verdiene er, sagt er. Davon zahle er etwa die Hälfte für Miete und Nebenkosten. Außerdem habe er Schulden. Im Bundeszentralregister ist zu ihm nichts verzeichnet.
Von seiner Unschuld ist das Gericht dennoch nicht überzeugt. „Ihre Einlassungen waren an den entscheidenden Punkten erfunden“, sagt Richter Alexander von Kennel in der Urteilsverkündung. Wenn die Kiste auf dem Bürgersteig stand, hätte er das Grundstück nicht betreten müssen. Vor allem aber wurde er der Polizei schon gemeldet, bevor es zum Steinwurf kam, führt Richter von Kennel aus. Schlussendlich verhängt er 90 Tagessätze zu je 40 Euro. Die 3600 Euro können in Raten zu je 200 Euro über 18 Monate abbezahlt werden. Hätte der Stein sein Ziel getroffen, sähe das Strafgesetzbuch eine Gefängnisstrafe vor.