Etwa 6000 Kilometer von ihrer Heimat Sierra Leone entfernt, träumt Diaka Salena Koroma davon, die erste Präsidentin ihres Heimatlandes zu werden. Die 34-Jährige lebt in Überlingen, studiert in Fulda (Hessen) und ist aufgewachsen in Freetown, der Hauptstadt Sierra Leones.
Sie liebt ihre Heimat. Den tiefen Sinn für Familie und Gemeinschaft, die Warmherzigkeit der Menschen und ihre Gastfreundschaft bewundert sie. „Ich hatte eine glückliche Kindheit“, sagt sie im Gespräch mit dem SÜDKURIER. Mit ihrer älteren Schwester Assa und ihrem jüngeren Bruder David wächst sie in der Fürsorge einer alleinerziehenden Mutter auf.

Verstümmelung, um Frau zu werden
Doch die Geborgenheit bekommt Risse, als ihre Mutter Saffie Koroma ihr erzählt, dass Mädchen traditionell beschnitten werden, um Frauen zu werden. Beinahe neun von zehn Frauen erdulden eine Genitalverstümmelung (FGM/C), sagt sie. Die Frauen lassen es über sich ergehen, weil sie dazugehören wollen, beschreibt Diaka Koroma.
Sogenannte Sowei verstümmeln die Mädchen. Sie sind respektierte Mitglieder der Bondo-Gesellschaft, eine Art Frauengeheimbund, dessen Einfluss im Land groß ist. Und wie so oft kommen die Täter aus dem eigenen Umfeld: Koromas eigene Großmutter war eine dieser Soweis. Als Heranwachsende empfindet Diaka ihr gegenüber eine tiefe Angst. Noch auf dem Begräbnis ihrer Großmutter fürchtet sie sich – und selbst danach wildert dieses Gefühl weiter. Nie durfte sie oder ihre Schwester mit ihr in einem Raum sein. Ihre Mutter hatte es ihnen verboten, weil sie selbst beschnitten wurde. Ihre Kinder wollte sie vor dieser Grausamkeit beschützen.
Verstoßen wegen Aktivismus
Koroma besucht die Hochschule, das Fourah Bay College in Freetown. Nebenher arbeitet sie als Model und Modedesignerin, auch Pflegeprodukte stellt sie her. Ihre Abschlussarbeit schreibt sie über die Verstümmelungspraktiken an Frauen. Je weiter sie forscht, umso schockierter ist sie von den Vorstellungen des so lange vertraut Geglaubten. Sie entscheidet, dagegen vorzugehen.
In der Bondo-Gesellschaft gilt sie deshalb als „Broaka“, als Ausgestoßene. „Warum denken die, die das durchgemacht haben, dass sie mehr Frau sind, als ich es bin?“, fragt sie. Im Fernsehen spricht die Aktivistin darüber, auf Tagungen, in Schulen. Nicht nur Soweis feinden sie an. Sie verliert Freunde. „Sie gingen durch so viel Schmerz, deshalb wollte niemand sagen, dass sie falsch liegen“, schildert Koroma.

Ihr Aufbegehren hat eine Form gefunden: „Girlz Empowered“, „ermächtigte Mädchen“, tauft sie ihre Organisation. Aufklärungsarbeit steht im Vordergrund, es geht um die Folgen der Beschneidung, Frauenkörper generell und Menstrualhygiene. Inzwischen arbeitet sie mit der Landesregierung und den Vereinten Nationen zusammen.

Doch damit ist längst nicht Schluss. Ihre Ziele reichen weiter: „Ich will die erste weibliche Präsidentin von Sierra Leone werden“, sagt sie. Ernest Bai Koroma war bereits Präsident des Landes. Mütterlicherseits ist sie mit ihm verwandt. Sie nennt ihn „Onkel.“ Zwischen 2007 und 2018 lenkt er den Staat. Diaka will es besser machen als er. Und vor allem sicherer für Frauen.
Zufall und Wille wirken zusammen
Purer Zufall und eiserner Wille wirken zusammen, damit sie das Land verlässt. Um ihren Traum, selbst Präsidentin zu werden, zu verwirklichen, will sie Netzwerke außerhalb Sierra Leones knüpfen, Verbündete finden – und vor allem: dazulernen. Einen ersten Schritt geht sie, als der Fotograf und Umweltaktivist Markus Mauthe und Kameramann Nick Platzer sie ansprechen, ob sie in ihrem Dokumentarfilm mitwirken wolle. Sie sagt zu. Bei den Dreharbeiten nähern sie und Platzer sich an. Sie verlieben sich. Dennoch hat sie nicht die Absicht, nach Deutschland zu kommen. Erst als sie recherchiert, wie und wo sie in ihrem Anliegen weiterkommt, entscheidet sie sich für einen Masterstudiengang in Fulda. Im Zentrum: Politik und Menschenrechte.
Um das dafür nötige Geld für ein Studentenvisum zusammenzukratzen, beendet sie ihr Unternehmertum und schließt all ihre Geschäfte. Etwas über 11.000 Euro muss sie je Jahr, das sie hier verbringt, nachweisen. Schon auf dem Weg vom Flughafen nach Überlingen, wo Platzer wohnt, erlebt sie den für sie entscheidenden Unterschied zwischen Deutschland und Sierra Leone: Sicherheit.
Fahrradfahren als Symbol der Sicherheit
Auf dem Weg vom Flughafen nach Überlingen fährt ein Junge auf einem Fahrrad an ihnen vorbei. Sie kann kaum glauben, was sie sieht: „Nick“, spricht sie ihren Freund an, „da fährt ein Junge. Ist er sicher?“ Platzer erwidert: „Ja, absolut.“ Ihr Staunen ist groß: „Das ist nicht normal bei uns“, sagt sie. Am Bodensee fühlt auch sie sich sicher.
Sie könne als Frau allein auf die Straße gehen, ohne Übergriffe zu fürchten. Sie weiß, was ihre Rechte sind. Zur Geburt ihres Sohnes erhält sie von Oberbürgermeister Jan Zeitler einen Brief. Für Koroma ein Manifest, das sie immer daran erinnert, ihr Sohn Arri wächst an einem sicheren Ort auf. Und weil ihr Sohn hier geboren wurde, erhebt sie auch Überlingen zu ihrer Heimat.

„Eine Stadt der Wohlhabenden“
Überlingen ist für sie einer der schönsten Orte, die sie je gesehen hat – „mit dem Blick auf die Alpen und weil es alles bietet, das man brauchen könnte, fühlt es sich wie eine Stadt der Wohlhabenden an“, fasst sie ihren Wohnort zusammen. Als im Frühjahr die Bars der Stadt ihre Türen für „Überlingen Tanzt!“ öffnen, erlebt Koroma Bruchstücke ihrer Heimat: „Die ganze Stadt war voll“, erinnert sie sich. Die Stimmung, die fröhlichen Menschen in den Gassen, das gemeinsame Genießen – es war wie Freetown.
Natürlich vermisst sie ihre Heimat, sagt sie. Und natürlich vermisst sie ihre Familie. Hin und wieder versucht sich ihr Partner Nick Platzer an der Küche ihres Landes. „Manchmal schaffe ich es, manchmal schmeckt es wie eine Beleidigung“, sagt der und lacht. Im Gegenzug versucht sie sich an hiesigen Spezialitäten. Laugengebäck hat ihr Herz erobert, auch die Idee von Vesper als eine Art Frühstück zum Abendessen begeistert sie – einzig für Maultaschen kann sie sich bisher nicht erwärmen.
So fahrradfreundlich wie Überlingen
Wann sie das nächste Mal in Freetown sein wird, kann Koroma nicht sagen – vielleicht in zwei bis drei Jahren, wenn ihr Sohn reisefähig wird. Dann will sie ans Meer, so viele lokale Spezialitäten wie möglich genießen – und natürlich ihr Engagement für junge Frauen fortsetzen. Sierra Leone soll sicherer werden. Freetown soll so fahrrad- und fußgängerfreundlich wie Überlingen werden. Denn vor allem wünscht sie sich, dass auch dort ein Kind so gefahrlos Fahrrad fahren kann, wie der Junge auf dem Rückweg vom Flughafen.