Er ist auf dem Weg in den Feierabend – und plötzlich geht es um Leben und Tod: Der 30-jährige Urim Osmani fährt am 4. Januar mit dem Auto von Überlingen Richtung Allensbach, als ihm vor Sipplingen ein Auto Lichthupe gibt. „Ich dachte erst an die Warnung vor einem Blitzer, oder an ein überfahrenes Tier. Leider war es aber ein Mensch, der da lag.“

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Vom Anblick geschockt

Der 30-jährige Urim Osmani kommt vermutlich nur wenige Sekunden nach dem Zusammenstoß an die Unfallstelle. Er parkt sein Auto in einer Bushaltestelle, nur ein paar Meter vom Opfer entfernt. Er schaltet den Warnblinker ein. „Warndreieck, Verbandskasten, wärmende Decke.“ An alles das, was er beim Erste-Hilfe-Kurs einmal lernte, habe er im Auto noch gedacht. Während des Aussteigens wählt er die 110. Dann erblickt er das viele Blut des Mannes, der schwerste Kopfverletzungen erlitten hat. Die Situation habe ihn so geschockt, dass er handlungsunfähig wurde. „Ich dachte im ersten Moment, der hat es nicht geschafft.“

Das Wichtigste: Die 110 gewählt

In seiner Erinnerung starrt Osmani minutenlang auf den Mann. „Bitte, bitte, beweg‘ dich“, habe er in Dauerschleife gedacht. Dabei hält er sein Handy weiter am Ohr. Am anderen Ende der Leitung ist die Rettungsleitstelle. Osman erinnert sich: „Der Mann am Telefon hat beruhigend auf mich eingeredet und er wollte wissen, wo genau der Unfall passiert ist. Ich konnte es ihm nicht sagen. Ich wusste nicht mehr, wo ich bin. Da habe ich zum Glück das Schild an der Bushaltestelle gesehen: Süßenmühle!“

Dieses Bild zeigt Urim Osmani am Abend des Unfalls. Er signalisierte dem Reporter, dass er gerne über das Erlebte sprechen möchte.
Dieses Bild zeigt Urim Osmani am Abend des Unfalls. Er signalisierte dem Reporter, dass er gerne über das Erlebte sprechen möchte. | Bild: Hilser, Stefan

Eigenschutz total vergessen

Warnweste anziehen, Warndreieck aufstellen, Unfallstelle absichern, Aidshandschuhe aus dem Verbandskasten anziehen, sich um den Verletzten kümmern? „Alles, was ich im Erste-Hilfe-Kurs gelernt habe, war weg.“ Stattdessen macht Osmani den Fehler, dass nun er selbst in dunkler Kleidung auf die Straße tritt. „Ich hätte das nächste Opfer sein können“, sagt er im Interview rund eine Woche nach dem Unfall.

Osmani arbeitet im Außendienst einer Handelskette, als Betriebsleiter ist er zuständig für rund 100 Beschäftigte. Er dachte, er sei auf so eine Ausnahmesituation vorbereitet gewesen und regt nun dazu an, im Erste-Hilfe-Kurs zum Beispiel mit einer VR-Brille echt wirkende Szenen vor Augen zu führen.

Ein Feuerwehrmann packt mit an

Das Wichtigste war, dass Osmani den Notruf 110 wählte. „Sie haben alles richtig gemacht“, habe ihm ein Polizist an der Unfallstelle versichert. Denn so konnte die professionelle Rettungskette schnell in Gang kommen. „Zum Glück“, so Osmani, sei zufällig auch ein Mitglied der freiwilligen Feuerwehr an die Unfallstelle, also jemand, der mit so einer belastenden Situation besser vertraut ist. Osmani schätzt, dass er etwa eine Minute nach ihm eintraf, und so war er beruhigt, dass sich jetzt jemand zupackend um das Unfallopfer kümmern konnte.

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Ganz untätig war Osmani nicht. Er wählte die 110, er übernahm es, den Verkehr zu regeln, und er stand dem Lastwagenfahrer, der nach dem Unfall natürlich genauso geschockt war, als erster Ansprechpartner zur Verfügung. „Trotzdem habe ich mich schuldig gefühlt. Hätte ich nicht mehr machen können?“

Ein Kriseninterventionsteam des Roten Kreuzes war an der Unfallstelle. Osmani hätte sich gewünscht, dass man ihm Hilfe anbietet. Es ist nicht so, dass er unbeachtet geblieben wäre. „Ich wurde von der Polizei gefragt, ob mit mir alles in Ordnung ist.“ Daraufhin habe er aber fälschlicherweise mit „Ja“ geantwortet. „Ich denke, das war das Adrenalin. Wenn das nicht gewesen wäre, hätte ich vielleicht geantwortet: Ja, ich brauche eine Betreuung.“

Sirenengeheul klingt weiter nach

Er fürchte, dass er diese Bilder nie ganz aus dem Kopf bekommt. „Die Sirenen verfolgen mich.“ Die vielen Martinshörner der vielen Rettungs- und Polizeifahrzeuge, und dann der startende Hubschrauber – alles das sind Geräusche, die sich ihm eingeprägt haben. „Das kommt plötzlich hoch, vor allem nachts.“ Die Personalbetreuerin der Firma, in der er angestellt ist, habe ihm Unterstützung angeboten.

Zahlreiche Rettungskräfte waren an der Süßenmühle im Einsatz.
Zahlreiche Rettungskräfte waren an der Süßenmühle im Einsatz. | Bild: Hilser, Stefan

Suche nach dem Opfer im Krankenhaus

Nun will Osmani wissen, wie es dem Opfer geht. „Das wäre nur gerecht, wenn ich etwas erfahren dürfte. In dem Moment war ich ja für den Mann zuständig.“ Er erfährt auch nicht, in welchem Krankenhaus das Opfer liegt. Aufs Geratewohl habe er an der Pforte des Klinikums Konstanz nachgefragt, dort aber natürlich nichts erfahren.

Der 30-Jährige wägt für sich noch ab, ob er professionelle Hilfe in Anspruch nimmt, die ihm von seinem Arbeitgeber angeboten würde. Fürs Erste ist es ihm wichtig, viel über das Erlebte zu sprechen. Als ihn die Polizei nach gut zweieinhalb Stunden ziehen ließ, habe er doppelt so lange für die Fahrt nach Allensbach gebraucht wie normal. „Ich bin mit vielleicht Tempo 40 über die Straße gefahren. Zu Hause hat mich mein Papa in den Arm genommen, und da bin ich in Tränen ausgebrochen.“

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