Vor zwei Jahren fiel eine ganzseitige Bekanntmachung des Regierungspräsidiums Tübingen aus dem üblichen Rahmen des amtlichen Mitteilungsblatts „Hallo Ü“. Am 24. Februar 2022 – ausgerechnet dem Schmotzigen Donnerstag – werde im Ratssaal die mündliche Verhandlung eines Enteignungsverfahrens ausgeführt, hieß es dort. Die weiteren Infos und der Absender, die Enteignungsbehörde, legten nahe, dass es sich um keinen Fastnachts-Scherz handelte.
Stadt wollte beim Verfahren keine Öffentlichkeit
Im Gegenteil. Die Stadt Überlingen habe beantragt, 116 Quadratmeter der Landwirtschaftsfläche des Obstbauers Bernhard Kitt für „die Errichtung eines Gehwegs und einer Stützmauer“ an der Nellenbachstraße zu enteignen. Mehr drang damals nicht in die Öffentlichkeit. An der Verhandlung, die dann doch nicht im Rathaus stattfand, durfte die Presse nicht teilnehmen, weil die Vertreter der Stadt dies verwehrten. Allein, dass man sich geeinigt habe, war im Nachhinein zu erfahren.

Bis heute herrscht Stillstand auf dem Gelände
Zwei Jahre später scheint dieser seltene Fall, bei dem der Staat mit Zwang auf das Eigentum eines Bürgers gegen Entschädigung Anspruch erhebt, also zur Ultima Ratio greift, fast vergessen. Der Eindruck trügt. Was auch daran liegt, dass die Baumaßnahme, die Grund für das Verfahren war, bis heute nicht in Angriff genommenen wurde. Die Effekte, die der Schritt und die Art der Umsetzung auf den Eigentümer haben, wirken seit zwei Jahren.
Grund für den Grundstücksbedarf war die Neugestaltung der Verkehrssituation am Übergang von der Nellenbachstraße in die Anna-Zentgraf-Straße. Dort hat die Baugenossenschaft Überlingen (BGÜ) 181 neue Wohnungen gebaut. Aktuell erinnert die Zufahrt noch an die Zeit, als hier Felder und Wiesen vorherrschten. Fußgänger müssen auf der Straße laufen, denn der Gehweg endet hier und kann auch nicht weitergeführt werden – ein Haus steht im Weg.
Vom SÜDKURIER nach dem Stand der Dinge befragt, antwortet die Pressestelle der Stadt: „Die erstmalige Herstellung der Nellenbachstraße vom Bauende Anna Zentgraf Straße wurde an den Bauträger der Anna Zentgraf Straße gegeben.“ In diesem Bereich liege auch das ehemalige Grundstück des Obsthofes Kitt, heißt es weiter. Wann es zur „Herstellung“ kommt, bleibt offen. „Wir als Stadtverwaltung können keine Aussage zur Umsetzung treffen.“

Das ist bemerkenswert, denn zu den Argumenten, warum die Enteignung angestrebt wurde, gehörte der sichere Schulweg für die neu zugezogenen Kinder. Auf die Frage, welche Wege diese zurzeit nutzen, listet die Pressestelle den aktuellen Straßenverlauf auf. Weiter macht die Erläuterung deutlich, dass Fußgänger nach Fertigstellung der Baumaßnahme in der Kurve die Straßenseite wechseln müssen, weil der Bürgersteig dort weiter geführt wird.

Kitt: Stadt nannte „beschämend niedrigen Preis“
Dazu kann Bernhard Kitt nur den Kopf schütteln. Dieser zweijährige Stillstand, nachdem er sein Land verkaufen musste, ist für ihn nur ein Aspekt einer wenig rühmlichen Geschichte. An den Beginn erinnert sich Kitt gut. Im September 2016 –„mitten in der Apfelernte“ – erreichte ihn der erste Anruf eines Mitarbeiters des Grundstücksmanagements. Die Stadt benötige einen Teil seiner Fläche. Beim späteren Ortstermin sei ihm dann ein beschämend niedriger Preis genannt worden, so Bernhard Kitt. Damit war für ihn die Sache erst einmal erledigt. Nach einer langen Pause kam ein neues, in seinen Augen immer noch nicht akzeptables Angebot.

Obstbauer spricht von „massivem Eingriff ins Landschaftsbild“
Der Preis war aber nicht der einzige Punkt, der den Obstbauern störte. Der erste Plan der Verwaltung sah den Bau einer Stützmauer vor. Das stellt für Kitt einen massiven Eingriff in das Landschaftsbild dar, denn es handele sich hier um den Teil eines alten Hohlwegs. Dazu biete eine Mauer den Fußgängern keine Ausweichmöglichkeit und sei dementsprechend gefährlich, so der Landwirt. Um eine Böschung anzulegen, werde mehr Fläche benötigt. Was dann später auch anerkannt und entschädigt wurde.
Gespräch mit OB „einschüchternd und wenig kompromissbereit“
Nach mehreren langen Pausen bei den Verhandlungen kam 2021 die Einladung zu einem Termin mit dem Oberbürgermeister. Das Gespräch hat Bernhard Kitt als einschüchternd und wenig kompromissbereit in Erinnerung. „Es wurde sofort mit Enteignung gedroht“, berichtet er, „da es jetzt schnell gehen müsse“. Kitt betont, durchaus weiter verhandlungsbereit gewesen zu sein, aber da habe die Enteignung im Sommer 2021 schon auf der Tagesordnung des Gemeinderates gestanden. „Es haben 24 Räte mit Ja gestimmt“, sagt der Obstbauer und schüttelt den Kopf.
Gang in die Stadt wird zum Spießrutenlauf
Der Obsthof ist seit 500 Jahren im Besitz der Familie Kitt. Dem Landwirt geht es nicht nur um die Quadratmeter, die er sich abkaufen lassen musste. Nachdem die ganzseitige Anzeige zur Enteignung mit seinem Namen im Mitteilungsblatt erschienen war, sei der Gang in die Stadt eine Art Spießrutenlauf geworden. Nicht nur alle Bekannten, auch seine Bank erkundigte sich, ob bei ihm wirtschaftlich alles in Ordnung sei. In der mündlichen Verhandlung hätte das Ehepaar Kitt mit ihren beiden Beratern, fünf Vertretern des Regierungspräsidiums sowie weiteren Mitarbeitern der Stadt gegenüber gesessen. Ein ungleiches und für ihn einschüchterndes Kräfteverhältnis.
Obstbauer kämpft mit wirtschaftlichen Folgen
„Das war eine Riesenbelastung“, sagt er rückblickend. Er habe unter großem Druck gestanden und einige menschliche Enttäuschungen verarbeiten müssen. Zu den wirtschaftlichen Folgen befragt, sagt er: „Zurzeit sind 50 Ar aus der Bewirtschaftung raus.“ Als Grund nennt er die fehlende Planungssicherheit, wie und wann an der neuen Grundstücksgrenze gebaut wird. Das hätte sich gut kompensieren lassen, meint Kitt. Der Obstbauer hätte zum Beispiel gerne Fläche vom Spital- und Spendfonds gepachtet, um diese als Ausgleich zu bewirtschaften. Aber solche Dinge seien nie Gegenstand der Gespräche gewesen.
Auf die abschließende Frage an den Landwirt, was für ihn überwiegt – der wirtschaftliche oder der emotionale Schaden der angedrohten Enteignung – zögert Bernhard Kitt kurz, holt tief Luft und winkt ab. „Ich sag‘ nichts mehr!“ Er steht auf und geht eine rauchen.