8.05 Uhr. Die Schulglocke läutet. Schulbeginn an der Freien Waldorfschule Überlingen. Doch statt in die Klassenzimmer verteilen sich die Schüler aller Klassenstufen auf dem Schulhof um die 61 Siebtklässler. Die stehen stolz, vorfreudig und aufgeregt neben ihren Rennrädern. Es ist wieder so weit: Die „Tour de Lauro“ steht an, zum 25. Mal schon. 1324 Kilometer mit dem Fahrrad von Überlingen nach Lauro bei Neapel. 9020 Höhenmeter überwinden die Schüler und die 33 Begleiter dabei.
Erst die Großen, dann die Kleinen
Unter Jubel und Applaus, unter Beobachtung der leuchtenden Augen der kleinen Geschwister und der stolzen Blicke der Eltern umrunden die Radfahrer zu Beginn ihrer Reise das Schulgelände. Nach 25 Jahren hat die Reise eine Anziehungskraft gebildet, eine Aura. Die Tour ist Gesprächsthema in den Klassenzimmern und auf dem Schulhof.

„Die Kinder sehen es jedes Jahr“, sagt Maria Linsenmaier. Mit ihrer Tochter hat sie die Tour selbst schon bestritten, dieses Mal ist sie als Teil des Küchenteams dabei. Wenn die großen Geschwister mitgemacht haben, wollen die Kleinen in der Regel nachziehen, schildert sie. Livia Santana bestätigt das: „Mein Bruder ist schon mitgefahren, da wollte ich auch“, sagt die 13-Jährige.

Ziel: Selbstbewusstsein vermitteln
„Wir bereiten sie mit den Worten vor, dass sie hauptsächlich Fahrrad fahren, schlafen und essen werden“, sagt Tobias Müller aus dem Organisationsteam und dem Vorstand des Tour-de-Lauro-Vereins. Die Schüler müssen durchhalten. „Unterwegs gibt es keine Alternative“, betont Mirjam Neyrinck, ebenfalls aus dem Vorstand. Diese Idee kommt bei den Schülern an. Auf die Frage, was sie tun, wenn es regne, erwidert Xaver Reyer: „Dann ziehen wir Regenschutzkleidung über.“

Auch wenn das Ziel Lauro heißt, geht es übergeordnet um etwas anderes: „Hauptmotiv ist, den Kindern das Selbstbewusstsein zu ermöglichen, über sich selbst hinauszuwachsen“, fasst Mirjam Neyrinck zusammen. Über das vorausgehende Training fahren sie sich buchstäblich an die Kondition und die Größe heran, bei der Tour jedweden möglichen Schweinehund hinter sich zu lassen.

In die gespannte Stille vor der Abfahrt ruft Tobias Müller den Schülern zu: „Im Training seid ihr immer sicher gefahren, das jetzt ist die Belohnung.“ Ab Ende der Osterferien, nachmittags, nach der Schule, treffen sie sich regelmäßig zu Trainingseinheiten. Langsam steigern sie sich. Von 30 auf 130 Kilometer, bis es kurz vor Pfingsten von der Generalprobe zur Aufführung kommt. Wenn sie bei Lauro, oder genaugenommen in Baia Domizia, angekommen sind, werden sie alle kombiniert viermal die Welt umrundet haben. Dann werden sie zwischen 80 und 185 Kilometer je Etappe in die Pedale getreten haben.
„In dem Alter können sie sich voll auf Fahrradfahren einlassen“
„Das eigentlich Unglaubliche ist, dass es jemand anbietet und jemand mitmacht“ bringt es Tobias Müller auf den Punkt. Dass die Tour mit der siebten Klasse umgesetzt wird, sei ein rein entwicklungspädagogischer Schritt, sagt Silvio Markewitz. „In dem Alter können sie sich voll auf Fahrradfahren einlassen“, sagt er. Wären sie jünger, hätten sie womöglich nicht die notwendige Ausdauer, wären sie älter, hätten sie andere Interessen.
Das Handy bleibt zu Hause
Worauf sich die Schüler am meisten freuen? Die gemeinsame Zeit mit Freunden, sagen jeweils die Schüler Xaver Reyer und Leon Kalmbach. Henriette Krumm freut sich, mit dem Fahrrad den Splügenpass zu bezwingen, während Bruno Speer den ersten Ruhetag erwartet, wo er im Comer See schwimmen kann. Ihr Gepäck müssen die Schüler auf 11,5 Kilogramm beschränken.

Henriette nimmt etwa eine eigene Kuscheldecke mit, verrät sie. Bruno Speer wiederum schlafe immer mit einer Mütze, erzählt er. „Sie erinnert mich an meinen Opa“, sagt er. „Das Wichtigste sind die Riegel“, sagen Bruno und Henriette in Eintracht, sie geben schnell viel Energie. Digitale Gerätschaften, allen voran das Handy, müssen zu Hause bleiben. „Für mich ist es nicht so schwer, eher für meine Mama“, sagt der 13-jährige Leon. Auch für Xaver und Livia sei es kein Problem. „Wir sitzen ohnehin die ganze Zeit auf dem Fahrrad“, sagt sie.

Bevor es losgeht, müssen Betreuer organisiert werden, die Route erstellt, Logistik und Fahrzeuge organisiert und Campingplätze reserviert werden. Allein die Organisation frisst mindestens 1000 Stunden, schätzt Tobias Müller. Die Schule könne das gar nicht leisten. Deshalb agiere der Verein zwar im Umfeld der Waldorfschule, jedoch unabhängig von deren Betrieb.

Fünf Begleitfahrzeuge unterstützen die Tour. Das Küchenteam ist das Letzte auf dem Campingplatz und das Erste auf dem nächsten. Sie bereiten die Mahlzeiten vor. Die reichen von geschnittenem Obst über Grillgut und Käsespätzle bis zu Wraps.
950 Euro Teilnahmegebühr
Doch all der Aufwand hat auch seinen Preis: 950 Euro kostet die Teilnahme an der 17-tägigen Unternehmung. Das Ziel sei zwar, dass alle Siebtklässler mitkommen, dafür gibt es Leihräder und eine Crowdfunding-Kampagne, doch aus verschiedenen Gründen passt es bei manchen nicht.
Die Tour findet indes auch außerhalb der Waldorfschule Zuspruch. Realschul-Rektor Sascha Ziegelbauer begrüßt die Idee: „Schule ist mehr als der Besuch des Unterrichts“, sagt er auf Anfrage. „Das Leben in der Schule und der soziale Zusammenhalt bilden nicht nur Grundlagen für den Schulbesuch, sondern für das spätere Sozialverhalten.“ An seiner Schule gebe es deshalb beispielsweise Kennenlernwochen in der 5. Klasse sowie gemeinsame Hüttenaufenthalte der Klassen 5 und 6 auf dem Höchsten. In der Waldorfschule träumen die Schüler dieser Klassen, bald selbst den Weg nach Süditalien anzutreten.