Stressen lassen sich die Menschen in Hohentengen am Hochrhein nicht. Auf dem Dorfplatz hinter dem Rathaus stehen, schön zusammengeräumt, die letzten Überreste des Weinfests vom vergangenen Wochenende. Sie warten darauf, dass sie irgendjemand abholt.

Umgeben von Fluss, Wald und Wiesen liegt die 4000-Seelen-Gemeinde im Landkreis Waldshut fernab von städtischem Trubel. Bemerkenswert ist der hohe Grenzgänger-Anteil: 40 Prozent der Einwohner pendeln für ihre Arbeit in die Schweiz. Gerade durch die greifbare Nähe des Nachbarlands, den Rhein und die Natur vermittelt Hohentengen ein Gefühl von Urlaub. Allerdings ist es hier alles andere als ruhig.

Weitere Belastung neben dem Fluglärm

Im Minutentakt durchkreuzen Passagierflugzeuge den Horizont so nah, dass sogar die Fahrwerke zu sehen sind. Mit dem Thema Fluglärm schlägt sich Hohentengen schon lange herum, da die Gemeinde in der Einflugschneise des Flughafens Zürich liegt.

Doch aktuell beherrscht ein ganz anderes Thema den Ort: die Entscheidung der Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra), auf der gegenüberliegenden schweizerischen Rheinseite ein Atommüllendlager zu errichten. Der kleine Grenzort ist auf einmal im Fokus des Interesses. So richtig wissen die Hohentengener nicht, wie sie mit der plötzlichen medialen Aufmerksamkeit umgehen sollen. Journalisten rollen aus allen Richtungen an, um Bewohnern ihre Fragen zu stellen. Auch eine Radio-Journalistin aus Freiburg versucht ihr Glück und schlendert mit ihrem Mikrofon durch die Straßen.

Ein Blick über den Campingplatz in Hohentengen auf die gegenüberliegende Rhein-Seite. In dieser Richtung soll in Zukunft das ...
Ein Blick über den Campingplatz in Hohentengen auf die gegenüberliegende Rhein-Seite. In dieser Richtung soll in Zukunft das Atommüllendlager Nördlich Lägern entstehen. | Bild: Nico Talenta

Im Autohaus Rehm, gleichzeitig Fahrradwerkstatt und Paketannahmestelle, bedient Bernadette Maier ihre Kunden. Sie gestikuliert bei ihren Gesprächen wild mit beiden Händen: „Das Atommüllendlager ist ein heikles Thema. Die Schweizer fänden es wahrscheinlich auch nicht so toll, wenn wir ihnen so etwas vor die Nase setzen würden“, sagt sie. „Gleichzeitig brauchen wir ja alle Strom – und irgendwoher muss der ja kommen.“

Eine junge Frau kommt herein, um ein Paket aufzugeben. Sofort beginnt auch sie mit Bernadette Maier ein Gespräch: „Niemand weiß, was wirklich hinter der Entscheidung steckt, jetzt plötzlich doch hier bei uns ein Lager zu bauen. Eigentlich war das Thema ja mal abgehakt.“ Kaum hat sie für den Versand ihrer Ware gezahlt, verlässt sie den Laden eilig wieder, um ihr Kind von der Schule abzuholen.

Fragen rund um die Folgen bleiben offen

„Schon jetzt fällt auf, dass Hohentengen viele krebskranke Menschen hat. Wer weiß, ob das Endlager die Zahlen nicht noch weiter nach oben treibt“, spricht Maier weiter, während sie die eingelieferten Pakete ordnet und für den Versand vorbereitet. Außerdem treibt sie eine weitere Frage um: Ist der Atommüll nicht schädlich für den Rhein, womöglich sogar für das Grundwasser?

Mit Fragen wie diesen ist die ältere Dame nicht allein, weiß Hohentengens Bürgermeister Martin Benz. „Es bleiben eine ganze Menge offener Fragen“, bestätigt er mit Nachdruck. „Am Weinfest-Samstag hat es uns kalt erwischt. Ich wurde von Mitbürgern angesprochen, ob ich die Entscheidung über den Standort des Schweizer Endlagers denn schon mitbekommen hätte. Auf ihren Smartphones haben sie mir dann die Meldung gezeigt.“

„Wir haben keine rechtliche Möglichkeit, gegen das Vorhaben vorzugehen“, sagt Martin Benz, Bürgermeister von Hohentengen.
„Wir haben keine rechtliche Möglichkeit, gegen das Vorhaben vorzugehen“, sagt Martin Benz, Bürgermeister von Hohentengen. | Bild: Nico Talenta

Die Menschen hätten es kaum glauben können. Benz schildert die Empörung: „Wie kann man so eine Entscheidung denn nun doch so plötzlich treffen? Wir sind doch schon durch den Fluglärm vorbelastet.“ Immer wieder begegnen dem Bürgermeister Sorgen, Ängste und vor allem Unverständnis der Bewohner in Hohentengen. „Das macht schon was mit den Leuten hier. Das Hauptproblem ist einfach, dass das Thema immer wieder aus dem Fokus gerückt ist. Deswegen kommt die Entscheidung jetzt so plötzlich“, erklärt er.

„Das macht schon was mit den Leuten hier.“
Martin Benz, Bürgermeister

Die ernüchternde Erkenntnis von Martin Benz: Die Hohentengener haben gar keine Chance, sich gegen die Entscheidung zu wehren. „Wir haben keine rechtliche Möglichkeit, gegen das Vorhaben vorzugehen.“ Die Gemeinde könne lediglich versuchen, mit Argumenten vorzudringen. Und genau das möchte Benz im nächsten Schritt machen: den Menschen vor Ort die Möglichkeit geben, ihre Sorgen und Ängste zu formulieren und Fragen zu stellen.

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Ein paar Häuser weiter betreibt Fotios Ntritsos ein griechisches Restaurant, von dessen Terrasse aus die Gäste direkt auf den Rhein blicken können. In Zukunft, wenn dort unter der grünen Natur gelbe Fässer lagern, bekommt diese Sicht einen faden Beigeschmack. Mit seinen Gästen kommt Ntritsos seit dieser Woche neben den Dauerthemen Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg auch auf das Thema Atommüllendlager zu sprechen.

„Ein paar Schritte weiterdenken“

„Eine solche Entscheidung trifft den Kurort Hohentengen schon mit voller Wucht. Das gibt wirklich kein gutes Bild ab“, kann auch er die Empörung seiner Bekannten und Kollegen nachvollziehen. „Ich finde, man muss auch immer ein paar Schritte weiterdenken. Auch wenn es uns nicht betrifft, betrifft es sehr wohl unsere Kinder. Das regt schon zum Nachdenken an.“

Kaum öffnet er die Tür seines Restaurants, kommen schon die ersten Gäste. Es sind Schweizer. Ntritsos bedient sie in seiner freundlichen griechischen Art, das Gespräch kommt dieses Mal aber nicht auf das Thema Atommüll.

„Viele Bekannte und Freunde grenzen sich vom Thema ab, weil sie davon ausgehen, dass sie, bis es losgeht, schon gestorben ...
„Viele Bekannte und Freunde grenzen sich vom Thema ab, weil sie davon ausgehen, dass sie, bis es losgeht, schon gestorben sind“, sagt Wirt Fotios Ntritsos. | Bild: Nico Talenta

Doch unter die kritischen Stimmen mischen sich auch andere Meinungen. Manuela Urland-Tanner beispielsweise ist optimistisch gestimmt, was das Atommüllendlager angeht: „Viel mehr Sorgen mache ich mir da um das aktive Atomkraftwerk in Leibstadt. Wir alle benutzen Strom und produzieren so den Abfall mit. Keiner möchte diesen vor der Haustüre, die Frage ,Wohin damit?‘ stellt sich aber trotzdem.“ Sie vertraue den Schweizer Behörden, die sich um die Fragen der Sicherheit kümmern – jedenfalls mehr als den deutschen.

Seit 24 Jahren wohnt Urland-Tanner in Hohentengen und betreibt einen Blumenladen an der vielbefahrenen Hauptstraße. Überrumpelt von der Entscheidung der Nagra fühlt sie sich nicht. „Das Thema haben wir hier schon jahrelang im Hinterkopf. Als es dann jetzt erneut aufkam, dachte ich nur: ,Aha, jetzt ist es also soweit‘“, erklärt sie. In ihrem Laden habe bisher kein Kunde das Gespräch über den Atommüll gesucht.

„Ich sorge mich mehr um das aktive Atomkraftwerk in Leibstadt“, sagt Floristin Manuela Urland-Tanner.
„Ich sorge mich mehr um das aktive Atomkraftwerk in Leibstadt“, sagt Floristin Manuela Urland-Tanner. | Bild: Nico Talenta

Es bleibt schwierig: Die Menschen in Hohentengen sind hin- und hergerissen, mal mehr besorgt, mal weniger. Am Donnerstag haben sie die Möglichkeit, an einer Informationsveranstaltung der Nagra und von Bürgermeister Benz Sorgen und Ängste zu schildern.

Benz hofft auf rege Teilnahme: „Ich bin wirklich gespannt, wie viele junge Menschen kommen. Die betrifft das Atommüllendlager in Zukunft schließlich am meisten.“ Bis es aber wirklich soweit ist und die ersten radioaktiven Stoffe Nördlich Lägern unter die Erde kommen, gilt für die Hohentengener weiter ihr Credo: bloß nicht stressen lassen.