Das Datum, seit dem Sigrun Peschel keinen Tropfen Alkohol mehr trinkt, hat sie noch genau im Kopf: Es war der 6. Dezember 2016, ein Sonntag.

Wie es überhaupt dazu kam, dass sie vom Alkohol abhängig geworden war? Ihrer Erfahrung nach gibt es nicht diesen einen Auslöser für den Weg in die Sucht: „Das ist ein schleichender Prozess. Bei mir fing der missbräuchliche Alkoholkonsum etwa 1998 an.“ Davor habe sie, wie die meisten anderen auch, als Jugendliche und Erwachsene vor allem an Festen mal ein, zwei Schlückchen getrunken. Nachdem sie ihr viertes Kind bekommen hatte, sei sie mit der Situation überfordert gewesen und allmählich immer mehr in die Abhängigkeit geraten.

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Hinzu kamen später Existenzängste, wie sie sagt. Der Alkohol schien ein Ausweg zu sein: „Ich hatte zu der Zeit das Gefühl, die Probleme würden nicht an mich ran kommen, wenn ich trinke. Weg, das weiß ich heute, sind sie deswegen ja noch lange nicht“, sagt Peschel. Weiter führt sie fort: „2010 war es dann ganz schlimm. Es ging einfach gar nichts mehr.“ Schon morgens nach dem Aufstehen habe sie zur Flasche gegriffen.

„Ich freue mich für jeden, der es schafft und möchte mit meiner Geschichte zeigen, dass die Menschen da draußen nicht alleine mit ...
„Ich freue mich für jeden, der es schafft und möchte mit meiner Geschichte zeigen, dass die Menschen da draußen nicht alleine mit ihrem Problem sind“, Sigrun Peschel. | Bild: Nico Talenta

Die 54-Jährige bezeichnet sich selbst als ehemalige Heimlichtrinkerin. „Ich habe vor allem alleine zu Hause Alkohol getrunken.“ Draußen sei ihr Konsum anderen kaum aufgefallen. Und genau darin sieht sie in der Corona-Pandemie eine große Gefahr für zur Sucht tendierende Menschen. „Ich bin überzeugt, dass Corona Suchten verstärkt. Dabei spielt es keine Rolle, ob es eine Alkoholsucht oder eine andere Abhängigkeit ist.“

Bis das allerdings messbar sei, gehe es es noch ein paar Jahre. „Die Menschen, die in eine Abhängigkeit abrutschen, müssen das ja erst mal merken und sich Hilfe holen“, erklärt Peschel. Sie jedenfalls kenne Menschen, die durch die Krise abgestürzt seien.

Den Suchtdruck vermeiden

Getrunken habe Sigrun Peschel vor allem Bier, Wein und Sekt. Spirituosen dagegen seien nichts für sie gewesen: „Mein Problem war, dass mir diese Getränke wirklich schmeckten. Es ging mir nicht darum, mich einfach zu besaufen. Einen Vollrausch hatte ich selten. Mir ging es mehr darum, einen kontinuierlichen Pegel zu halten.“

Gerade an Weihnachtsmärkten falle es ihr noch heute schwer, dem Duft von Glühwein zu widerstehen. „Ich liebe Glühwein. Das ist wirklich hart“, gibt die 54-Jährige zu. Der Gedanke daran, jetzt ein Bierchen zu genießen, komme ihr noch oft. „Er wird mich immer begleiten. Ich habe aber gelernt, damit umzugehen.“ Das sei harte Arbeit gewesen.

Das Wichtigste sei, alles dafür zu tun, um einen Suchtdruck zu vermeiden: „Der geht nur wenige Minuten, aber ihn zu überstehen ist fast unmöglich. Ich jedenfalls könnte es nicht, wenn er mich erst mal packt.“ Auch deswegen, um gar nicht erst an diesen Punkt zu gelangen, hat die Tiengenerin mindestens ein Jahr lang Feste ganz vermieden.

Das sollten Sie zum Thema Alkohol wissen

Inzwischen kann Sigrun Peschel es aber aushalten, wenn um sie herum Alkohol getrunken wird, wie sie sagt. Sie entscheide spontan vor Ort, wann es besser für sie sei, heimzugehen. Einen Punkt bedauert sie dennoch: „Ich mag Fasnacht und wollte mal einer Guggenmusik beitreten. Das wäre aber ein Spiel mit dem Feuer gewesen – nur deshalb habe ich mich dagegen entschieden.“ Die Freiheit, überhaupt klar und nüchtern über solche Dinge nachzudenken, erarbeitete sich Peschel mit zahlreichen Therapien.

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Ihre erste Entgiftung mit anschließender Therapie war 2010, die Zweite 2013. „In diesen Jahren war mein Kopf allerdings noch nicht soweit. Mir war klar, dass ich wieder trinken werde, wenn ich rauskomme.“ 2016 dann der dritte Anlauf. Der Auslöser, etwas gegen die Sucht zu unternehmen, kam von Außen. „Den habe ich gebraucht. Ich selbst hätte nicht reagieren können, auch wenn ich gemerkt habe, dass mein Verhalten nicht in Ordnung ist. Ich konnte einfach nichts dagegen tun“, schildert sie ihre Ohnmacht.

„Meine damaligen Arbeitskollegen waren schließlich die größte Hilfe.“ Sie hätten sich Sorgen um die heute 54-Jährige gemacht, woraufhin ihre damalige Vorgesetzte dann ein Vier-Augen-Gespräch mir ihr suchte. „Während des Gesprächs war ich richtig froh, weil ich mir die ganze Zeit nur dachte: Jetzt kann ich endlich etwas tun. Jetzt bekomme ich Hilfe.“ Also wieder vier Wochen körperliche Entgiftung, acht Wochen in eine Therapie-Gruppe – nur dieses Mal mit Erfolg.

Nichts zum Schämen

Während dieser Zeit besuchte sie die suchtmedizinische Tagesklinik in Bad Säckingen, war tagsüber in Betreuung und abends wieder zu Hause. Was danach passierte, bezeichnet die trockene Alkoholikerin heute als Glücksgriff: „Ich bin anschließend ohne Pause 16 Wochen stationär nach Freudenstadt in eine Reha gekommen. Normalerweise hat man dazwischen vier bis sechs Wochen Wartezeit und die ist brandgefährlich.“ In dieser Zeit würden viele wieder zurück in die Abhängigkeit fallen. Um nach der Reha nicht alleine mit ihren Gedanken zu sein, besuchte sie in Waldshut-Tiengen eine Selbsthilfegruppe. Vor zwei Jahren gründete sie sogar selbst eine.

Durch die ehrenamtliche Arbeit bleibt Sigrun Peschel immer in Kontakt mit dem Thema Alkohol. Und das ist wichtig für sie, denn Tücken lauern überall. Einmal nicht aufgepasst, kann schon ein Stückchen Schwarzwälder Kirschtorte die Sucht aktivieren. „Das ist verrückt und spannend zugleich, was da in Nanosekunden in deinem Gehirn vor sich geht“, schildert sie ihre Faszination. „Trotz allem ist es nichts, wofür man sich schämen muss.“

Ihr dringlichster Wunsch: Sie möchte anderen Mut machen, sich Hilfe zu holen. „Ich freue mich für jeden, der es schafft und möchte mit meiner Geschichte zeigen, dass die Menschen da draußen nicht alleine mit ihrem Problem sind.“

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