Schwörstadt – Leicht vornübergebeugt sitzt er an einem Tisch in seinem Musikzimmer, Brille auf der Nase, der Blick konzentriert auf die Notenblätter gerichtet: Wenn Roland Fluri seinem Instrument per Knopfdruck und mit Zieh-und-Druck-Bewegungen Melodien entlockt, ist er in seinem Element. Seit fast 80 Jahren spielt der 91-Jährige Harmonika und Akkordeon. Kürzlich hat ihn das Harmonikaorchester Schwörstadt für 70 Jahre Mitgliedschaft geehrt – er hatte den Verein 1954 mitgegründet. Die „Örgeli“, wie Fluri die Instrumente nennt, begleiten ihn fast sein ganzes Leben.
Geboren und aufgewachsen ist der gelernte Schreiner in Rheinfelden. Die Liebe zum Musizieren entdeckte er als Jugendlicher, als ihm sein Vater zu Weihnachten seine erste Handharmonika schenkte. Die Liebe blieb: Bald trat er dem örtlichen Verein bei; ab 1950 nahm er Unterricht in Schwörstadt. Zu diesem Zeitpunkt spielte er bereits auf einem größeren Knopfakkordeon. Im Gegenzug zu den Ausführungen mit Tasten, auch Schifferklavier genannt, habe er das Instrument auch mit seinen kurzen Fingern gut spielen können, erklärt der Hobbymusiker.
Nach der Gründung des Harmonikaorchesters Schwörstadt (HOS) sollte das gemeinsame Musizieren einen beträchtlichen Teil seiner Freizeit in Anspruch nehmen. Zehn Jahre war er Vorsitzender, 1964 wurde er Dirigent – und blieb es für mehr als drei Jahrzehnte. Zurückhaltend reagiert Roland Fluri, angesprochen auf sein Engagement im HOS. „Selbstverständlich“ sei es für ihn gewesen. Und als Dirigent habe er auch eine Pflicht verspürt, für die Spieler da zu sein. Auch wenn er sich heute manchmal frage, woher er zwischen Schichtarbeit, Verein und Familie die Kraft für alles genommen hat, sagt er. Zweifacher Vater, mehrfacher Opa und ein Urenkel ist auch schon da: Fluri ist ein Familienmensch, seit fast 70 Jahren ist er verheiratet. Knapp die Hälfte dieser Zeit leben er und seine Frau schon in ihrem Haus in Schwörstadt. Die gemeinsame Tochter wohnt direkt nebenan. Zeit für die Familie hatte Fluri aber nicht immer; vor allem die Kinder hätten darunter gelitten, dass er nach langen Arbeitstagen seine Freizeit der Musik widmete, sagt Fluri. Umso bestimmter ist sein Auftreten, wenn es um die Nachwuchssorgen im Verein geht. Er beobachte, dass bei Jüngeren allgemein das Interesse am Musizieren zurückgeht. Sie hätten mit Handys und Internet anderes im Kopf. Fünf bis sechs Schüler habe er zu seiner Zeit immer unterrichtet. Heute seien die Vereinsmitglieder alle mehr als 60 Jahre alt, der Nachwuchs fehle. Ob das Akkordeon aus der Mode gekommen sei? „Das Akkordeon hatte es schon immer schwer. Blasmusik ist populärer“, gibt Fluri zu. Warum, das könne er sich nicht erklären. Denn ihm gefällt an seinem Instrument vor allem das Gesellige. Egal ob bei Betriebsausflügen im Bus, bei privaten Feiern oder zu Konzerten: Man habe mit Harmonika und Akkordeon alles begleiten können, was an volkstümlichen Liedern gesungen wurde. Und Tanzbares war auch darunter: Märsche, Polkas und Ländler, eine Spielart der Volksmusik, die unter anderem im süddeutschen und Schweizer Raum verbreitet ist, hört Roland Fluri heute noch gerne. Einmal, erinnert er sich beim Durchblättern eines Fotoalbums, hätte das Publikum bei einem Konzert in Frankreich sogar auf Konzertstücke getanzt. Die Freude in seiner Stimme ist nicht zu überhören, wenn er an seine aktive Zeit im Harmonikaorchester zurückdenkt. Chaotische Probenwochenenden ohne fließendes Wasser, Auftritte mit seiner Mutter, die erst mit 54 Jahren das Akkordeon für sich entdeckte, oder auch Auszeichnungen für das Jugendorchester unter Fluris Leitung: Je länger man mit ihm spricht, desto mehr Anekdoten ruft sich der 91-Jährige ins Gedächtnis.
Im Laufe der Zeit habe sich die musikalische Ausrichtung vieler Orchester verändert. Neue Einflüsse – etwa aus dem US-amerikanischen Soul und der Popmusik – kamen auf, dazu wird auch Klassisches vermehrt gespielt. „Ich verfluche das meistens. Sie spielen auch mal Helene Fischer und so, das ist nichts für mich. Ich habe das Gefühl, die Stücke gehen oftmals gegen den Takt und die verschiedenen Abteile des Orchesters spielen immer dasselbe. Aber den Jungen gefällt es“, sagt er lachend. Vor allem vermisse er die Gemütlichkeit: „Mir ist heute alles ein bisschen zu schnell. Ich habe im Dirigentenlehrgang noch gelernt: Einen Marsch muss man laufen können, nicht springen. Und ein Walzer darf nur so schnell sein, dass einem beim Tanzen nicht schwindelig wird.“ Seiner Liebe zum Instrument und der Verbundenheit mit dem Orchester in Schwörstadt tun diese musikalischen Differenzen aber keinen Abbruch. Beim Jubiläumskonzert im Januar baute das HOS seinem Ehrendirigenten eine musikalische Brücke – und studierte extra einen Marsch für ihn ein. Auch heute spielt Fluri noch gerne die altbekannten Melodien – auch wenn er inzwischen auf Noten als Gedankenstütze angewiesen ist. „Eine richtige Blamage“ sei es, wenn er nach vier oder fünf Takten ohne Notenblätter nicht weiter wisse. Und auch ein Rückenleiden mache das Spielen schwer, immerhin bringt ein Akkordeon ordentlich Gewicht auf die Waage. Davon allzu sehr einschränken lässt der 91-Jährige sich nicht: Alle 14 Tage trifft er andere Ehemalige des Seniorenorchesters Murg zum Musizieren. Auch dieses Orchester hat Fluri acht Jahre geleitet – wie er fast beiläufig erwähnt.