Ein Schwarzwälder Findling und eine schlichte Informationstafel erinnern am Grenzübergang Stühlingen-Oberwiesen an das Ende des Zweiten Weltkrieges im Wutachtal. Hier, wo der von der Stadt Furtwangen wegen der Nahrungsspenden aus Schleitheim gestiftete Gedenkstein steht, begann für 5125 Zwangsarbeiter aus der Region nach schweren Zeiten ein neuer Lebensabschnitt. Mit dem Überschreiten der Schweizer Grenze gingen viele von ihnen vom 21. bis zum 25. April 1945 einem Leben in Freiheit entgegen.

Schon in den Wochen zuvor hatten immer wieder Flüchtlinge die Landesgrenze passiert. Nun kamen sie in großer Zahl und mit Billigung der Deutschen. Allein am 21. April 1945 gelangten 841 Angehörige verschiedener Nationen hier in die Schweiz. Der „Schleitheimer Bote“ schrieb damals: „Wir erleben an der Grenze Weltgeschichte. Seit Samstag ergoss sich in Oberwiesen ein Flüchtlingsstrom, wie man ihn sich kaum vorgestellt hatte.“ Viele wurden mit dem Lastwagen hergebracht, die deutschen Zöllner stellten sie an der Grenze auf. Die Warteschlange reichte bald von der Wutachbrücke bis hin zum Gasthaus ‚Napoleon‘“.
Sammelstelle in Schaffhausen
Die Schweizer ließen jeweils Gruppen mit 50 bis 60 Personen passieren, die zunächst in einem Lager auf Oberwiesener Fabrikgelände untergebracht wurden. Später wurden sie zu einer Sammelstelle in Schaffhausen gebracht. Auf Weisung des Schweizer Bundesrates wurde der Schlagbaum um 22 Uhr wieder heruntergelassen. Die Regierung in Bern hatte auch bestimmt, dass nur wenige Grenzübergänge grundsätzlich für Flüchtende geöffnet werden.
Schnellstmögliche Abfertigung
In Oberwiesen ging die Abfertigung am 22. April weiter und brachte den Schleitheimern mit 1295 Personen den Höchststand. Mittlerweile klappte die Organisation ganz gut, sodass diese Menschen schnellstmöglich auf nahe gelegene Sammellager verteilt werden konnten. Ehemalige Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, vor allem aus Osteuropa, unter ihnen 1677 Russen, 117 Litauer, 671 Polen, 164 Tschechen, aber auch 317 Italiener und 106 Holländer sowie 120 „Schutzaufenthaltsuchende aus den badischen Nachbargemeinden“, passierten den Zoll.
Afrikaner und Asiaten
Auf dem Gedenkstein wird der Zustand der Flüchtenden teilweise als „elend, verwahrlost und hungrig“ beschrieben, andere waren mit Rotkreuz-Paketen ausgerüstet und von den Nationalsozialisten noch schnell abgeschoben worden. Am 23. April überquerten 563¦Personen die Wutachbrücke, unter ihnen 203 Senegalesen und Menschen aus Indochina. Sie hatten einen dreitägigen, 180 Kilometer langen Marsch mit zwei Verpflegungsrationen hinter sich und waren völlig erschöpft im Wutachtal angekommen.
Wie alle anderen freuten sie sich über die von der Schleitheimer Bevölkerung organisierte Verpflegung mit Brot, Tee, Äpfeln und warmer Suppe. Die Schleitheimer ließen es sich nicht nehmen, dem „Elendsstrom, den das Dritte Reich herübersandte“ („Schleitheimer Bote“) so gut es ging zu helfen. Dabei ignorierten die beherzten Helfer auch Anweisungen der Regierung, die davor warnte „mit den Flüchtlingen in Kontakt zu treten, bevor diese sanitarisch untersucht seien“.
Nazis setzen sich ab
Am 24. April kamen 690, am 25. April 241 und am 26. April nochmals 751 Männer und Frauen über die Landesgrenze. Nicht zuletzt dem Einsatz des Schaffhauser Stadtpräsidenten Walter Bringolf war es zu verdanken, dass im Kanton Schaffhausen die Menschlichkeit über die Abschottung des Landes siegte.
Mit der Besetzung Stühlingens durch die französischen Truppen hatte die Fluchtbewegung ein Ende, auch Deserteure wurden nun zurückgewiesen. Zuvor hatten 670 deutsche Offiziere und Soldaten ebenfalls den Grenzübergang Oberwiesen genutzt, um sich im letzten Moment in die Schweiz abzusetzen.
Viel Lob gab es für den Einsatz der Schleitheimer Bevölkerung, die ihr Bestes gab, um die Flüchtlinge kurzfristig unterzubringen und zu verköstigen. Deren weiterer Weg führte nach Schaffhausen, wo man kaum nachkam mit der Einrichtung von Übernachtungsmöglichkeiten, Krankenstationen, Suppenküchen und Desinfektionsstellen. Im Schleitheimer Gemeindearchiv befinden sich Fotos, die ein Zollbeamter 1945 von den Ereignissen gemacht hatte, aber auch das Gästebuch, in dem die Flüchtlinge in ihrer Sprache und Schrift den Schleitheimern dankten.
Dieser Artikel wurde erstmals 2020 veröffentlicht.