Im April 1945 klopfte der Krieg auch an die Tür des Wehratals. Er tönte immer lauter über den Dinkelberg nach Wehr. Die Tiefflieger kamen bei guter Sicht. Die Furcht wuchs. Was sollte aus den 120 Buben im Wehrahof werden, die 1943 aus Mannheim evakuiert worden waren? Otto Lukas – einer von ihnen – erinnert sich an diese schlimme Zeit. „Unser Lagerleiter war nervös. Die Betreuer hatten Angst vor den Franzosen. Auch das Essen wurde schlechter. Wir bekamen wir nur noch Brot und Wassersuppe. Zu wenig für 15-Jährige, die im Wachstum waren“.

Obwohl Lagerleiter Fritz Schuler ein überzeugter Nazi war, setzte er sich nicht ab wie viele andere. „Er hatte eine gute Idee“, so Otto Lukas, „vielleicht die einzig mögliche. Wir sollten in Wehr und den umliegenden Dörfern an die Türen klopfen und fragen, ob uns die Leute aufnehmen könnten“.
Ausgenommen waren die Bettnässer. Sie sollten den Gasteltern nicht zur Last fallen. „Wegen der abendlichen Wassersuppe hatten etwa 15 Jungen Probleme damit“, erzählt Otto Lukas. Es wird aber auch die Ungewissheit gewesen sein, die ihnen seelisch zusetzte. „Hart wie Kruppstahl“ war kaum einer.
Otto hatte Glück. Er kam bei Sigmund Wunderle in Öflingen in der Jungholzer Straße unter. Drei weitere Jungen waren ganz in der Nähe, einer von ihnen bei Schreiner Baschnagel. Dora Wunderle, Sigmunds einziges Kind, brachte mit einem Leiterwagen Ottos Habseligkeiten nach Öflingen. Sie war nur drei Jahre älter als er und verstand sich gut mit ihm.

Aufregend war der Einmarsch der Franzosen am Morgen des 25. April 1945. Von Wunderles Haus sah Otto auf die Straße beim „Schwanen“: „Die Panzer hatten die Kurve aufgewühlt. Die Jeeps vorne trugen über den Kühlerhauben rote Tücher, um nicht von den eigenen Fliegern beschossen zu werden. Zwischen den Militärfahrzeugen fuhren auch viele beschlagnahmte Lieferwagen und PKW. Sie hatten noch ihre Firmenschilder dran von Lahr bis Lörrach. Man konnte an ihnen den Weg des französischen Vormarschs ablesen. Die Kampftruppe zog weiter über Brennet bis Wallbach. Von dort hörten wir Granatschüsse. Dann war es still. Säckingen hatte sich ergeben.“

In der Nacht hieß es, die SS wolle das Dorf verteidigen. Daraufhin war gegen vier Sigmund Wunderles gehbehinderte Schwester auf einem Leiterwagen hinauf in den Wald gebracht worden. Dort versteckten sich die Frauen. Wilde Gerüchte kursierten vor dem Einmarsch der Franzosen, wie auch die frühere Spitzenturnerin Getrud Starkel (heute Schmidt) bestätigt: „Die Frauen packten ihr Sachen und sind in den Wald geflohen. Weil es keine Übergriffe gab, kehrten sie bald wieder zurück“.
Otto Lukas erlebte eine glückliche Zeit bei den Wunderles – ohne Schule. Im Schulhaus war die Kommandantur einquartiert. Wenn der Schreiner Sigmund Wunderle am Nachmittag von der Arbeit aus der „Weck“ heimkam, ging Otto mit auf die Felder. Wie bei allen anderen Öflinger Nebenerwerbsbauern lagen sie weit um das Dorf verstreut.

Ende Juli – es war ein heißer Sommer – kam der Abschied. Von einer Karlsruher Rot Kreuz-Schwester hatten die Jungen erfahren, dass ein Wehrer Spediteur eine Fuhre nach Karlsruhe plante. Vor dort war es nicht weit nach Hause. In Säckingen besorgten sie sich Passierscheine. Sie brauchte den Laissez-passer, um durch die Sperre zwischen Wehr und Öflingen zu gelangen.
Heimweh nach Öflingen
Vor dem Abschied hatte Sigmund Wunderle gesagt: „Wenn deine Eltern nicht mehr leben, kommst du zu uns. Wir nehmen dich als Sohn auf.“ Otto hatte nichts mehr von zu Hause gehört. In der Nacht vor der Abfahrt schlief er bei Güdemanns neben der „Alten Krone“ in Wehr. Der LKW wartete am heutigen Werkhof der Firma Leber in der Merianstraße. Dort stand auch Fritz Schuler. Er war von den Franzosen verhaftet, dann aber als Ersatzpolizist eingesetzt worden. Er schimpfte mit der Krankenschwester. Der Grund blieb für Otto Lukas bis heute ein Geheimnis.
Ankunft in Mannheim deprimierend
Die Rückfahrt war chaotisch, die Ankunft in Mannheim deprimierend: „Ich traf meine Eltern lebend an, eigentlich war ich ein Glückspilz. Aber Mannheim war furchtbar zerstört. Ich fühlte mich nicht mehr wohl in unserem Stadtteil. Im Stillen hatte ich Heimweh nach Öflingen“. Hätten Vater und Mutter nicht überlebt, Otto Lukas wäre ein Öflinger Bub geworden. Bald besuchte er mit seinen Eltern die Wunderles. Der Kontakt riss auch nicht ab, nachdem seine Pflegeeltern auf dem Öflinger Friedhof ruhten. Zum letzten Mal war Otto Lukas 2017 in Öflingen. Dankbar erinnert sich der Mannheimer Bub an die Menschlichkeit, die ihm hier in schwerer Zeit begegnet war.