Viele alte Wehrer haben lebhafte Erinnerungen an den „Wehrahof“ und seinen legendären Saal. Dort fanden rauschende Fest statt. Von Operetten über Turn-Wettkämpfe gegen einen DDR-Verein bis hin zur grandiosen Saalfasnacht des Elferrats reichte die Bandbreite. Sogar Plastik ließ Viktor Erhart nach dem Krieg dort produzieren.
Ein Hotel mit vielen Geschichten
Viele Geschichten kreisen um dieses Gebäude, obwohl dessen Geschichte erst 1904 begann. Das damals erbaute Hotel war eine Fehlinvestition. Die Liste der gescheiterten Hoteliers füllte Bände. Doch so viel man sich über das Hotel erzählt – eine Geschichte ist fast vergessen. Sie handelt vom Schicksal der 120 „Mannheimer Buben“, die vom September 1943 bis zum April 1945 Zuflucht im „Wehrahof“ fanden.
Einer von ihnen war Otto Lukas (geboren 1931), der heute in Schriesheim lebt. Mannheim war ein Zentrum der Rüstungsproduktion. „Als 1941/42 die Luftangriffe losgingen, war der Unterricht sehr eingeschränkt. Ab Herbst 1943 musste der Schulbetrieb eingestellt werden. Die Schüler mit Verwandten auf dem Land kamen dort unter. Wer keine hatte, wurde in ein KLV-Lager (Kinderlandverschickung) geschickt. Schüler durften nicht in Mannheim bleiben.“

Otto Lukas, dessen Eltern in einer Mannheimer Fabrik arbeiteten, hatte Pech. Seine Familie besaß keine ländliche Verwandtschaft. So wurde der 13-Jährige mit einem bunt zusammengewürfelten Haufen Mannheimer Buben per Sammeltransport nach Wehr geschickt. Ziel war der „Wehrahof“, den Viktor Erhart vor dem Krieg erworben hatte. Das Hotel wurde zum KLV-Lager umfunktioniert.
„Am Spätnachmittag des 27. September kamen wir an.“ Die Jungen wurden sofort im Vestibül des „Wehrahof“ mit der Lagerleitung konfrontiert. „Von unseren vertrauten Lehrern war keiner dabei“, so Otto Lukas. „Ein so vornehmes Hotel hatte noch keiner von uns gesehen. Auch an die Bezeichnung Lager mussten wir uns gewöhnen – und an den strikten Tagesablauf.“

Der Lagerleiter Fritz Schuler sorgte mit einer strengen Hausordnung für militärischen Drill. „Uns wurde schnell klar, dass wir nicht zur Erholung hier waren.“ Spindkontrollen mit Schikane, endlose Appelle, Flaggenparaden mit Hitlergruß am Balkon, Exerzierübungen am Platz neben dem Hotel, ein fester Tagesablauf mit Unterricht am Vormittag und HJ-Ausbildung am Nachmittag gehörten zum Alltag – und für viele das Heimweh und die Sorge um die Eltern.
Aber es gab auch Lichtblicke. Im Sommer Besuche im Schwimmbad am früheren Gasthaus „Bärenfels“ oder Ausflüge zum „Schlössle“ bis hinauf in die Wehraschlucht. Am alten Sportplatz bei der heutigen Novartis wurde gebolzt. Doch das Spielfeld wurde auch zum Drillen verwendet. Die Jungen nannten das „Schleifen“. „Auf dem Blutacker, dem Blutacker, da kann man schwitzen wacker“, reimte einer der gedrillten Jungen. An Winterabenden wurde gebastelt. Unterricht fand im Saal rechts im Vestibül, im Löwenkeller und im Festsaal statt.

Viel hat Otto Lukas über den „Lageralltag“ zu berichten, nichts über Kontakte zu Jungen aus Wehr. „Wir waren eine Enklave, völlig abgeschottet.“ Höhepunkte waren die Besuche der Eltern, die im „Adler“ wohnten. Als der inzwischen 14-Jährige in den Sommerferien 1944 nach Mannheim fahren durfte, geriet er gleich in einen Fliegerangriff. „Ich war entsetzt, wie die Stadt aussah: Staub, Schutt, Ruinen, soweit das Auge reichte.“
Auch in Wehr wurde die Lage kritisch. Aus dem Elsass klangen Geschütze herüber und Anfang 1945 kamen die Tiefflieger. Die Verwaltung hatte auf dem Rathaus-Dach ein MG-Nest installiert. Dort schob ein „beleibter Angestellter“ Wache, der sich als Held aufspielte: „Ich schieße alle Flieger ab!“ Die Jungen mochten ihn nicht und nannten ihn „Schmoller“. „Er hat uns beobachtet und telefonisch beim Lagerleiter verpfiffen.“

Im März beobachtete Otto Lukas „in Richtung Öflingen einen Bomberverband nahe an der Schweizer Grenze. Da begann die Schweizer Flak senkrecht in die Luft zu schießen, um die Staatsgrenze zu markieren.“ An diesem Tag wurde in Brennet die MBB angegriffen. Auch Wehr wurde von Jagdbombern attackiert. „Wir flüchteten in den Luftschutzkeller. Das Geballer der Bordkanonen war so laut, dass sich Frau Erhart über ihren Säugling warf, um ihn zu beschützen.“ Bärbel Bömisch, geborene Erhart, war im Januar zur Welt gekommen und lebt heute in Wehr.
Richtig kritisch wurde es, als die Franzosen kamen. Da erlebte Otto Lukas, dass es trotz Krieg und Chaos noch echte Menschlichkeit gab.