Es leben nur noch wenige Männer im Wehratal, die vor 75 Jahren das Ende des Zweiten Weltkriegs in Uniform erlebten. Einer von ihnen ist der Öflinger Gerold Rotzler. „Ich habe Glück gehabt“, sagt der am 2. Januar 1927 geborene pensionierte Bauingenieur. „Wäre ich drei Tage früher zur Welt gekommen, hätte ich vermutlich den Krieg nicht überlebt. Viele vom Jahrgang 26 sind gefallen, während der 27er nur einen Toten zu beklagen hatte: Meinen in den letzten Kriegstagen in Berlin gefallenen Freund Bruno Schildknecht.“

Gerold Rotzlers Jugend hätte ruhig verlaufen können, wären die Nazis 1933 nicht an die Macht gekommen. Dann hätten die Waffen geschwiegen und die Weimarer Demokratie hätte eine Chance gehabt, sich friedlich zu entwickeln. So aber war Rotzlers Jugendzeit von einem Krieg überschattet, der mehr als 55 Millionen Menschen das Leben kostete.

Bereits mit 16 musste der aus einem Öflinger Baugeschäft stammende Gymnasiast als Flakhelfer Dienst leisten – zuerst in Wyhlen, dann am Kraftwerk Schwörstadt. „Wir hatten zwar in unserer Unterkunft gelegentlich Unterricht, aber ernst genommen haben wir die Schule nicht. Wir wussten, dass uns die Front drohte. Da spielte ein Zeugnis keine Rolle mehr.“

So kam es. Gerold Rotzlers Zeit als Flakhelfer lief im September 1944 ab – ohne einen einzigen Schuss. Die Tiefflieger kamen es erst Anfang 45 mit den Franzosen. Im September musste Rotzler zum Reichsarbeitsdienst (RAD) nach Haidkapelle auf der Schwäbischen Alb. Die Musterung hatte er bereits im Januar 1944 hinter sich gebracht. Wie viele vor ihnen waren die Öflinger Rekruten auf einem mit Reisig geschmückten Wagen und mit Musik nach Wehr zur Musterung gefahren. Auf ein Schild hatten sie geschrieben: „Churchill, jetzt wird´s ranzig, jetzt kommt der Jahrgang 27.“

„Das war jugendlicher Übermut“, sagt Gerold Rotzler. „Wir wussten, dass der Krieg verloren war. Aber wir hatten uns freiwillig gemeldet, keinesfalls aus Begeisterung, sondern um nicht zur Waffen-SS eingezogen zu werden.“ Daher war Rotzler zur Flieger-Hitlerjugend gegangen. Dort hatte er alle Segelflugprüfungen absolviert, um zur Luftwaffe zu kommen.
Die Rechnung ging auf. Zusammen mit seinen Freunden Kurt Bolanz und Bruno Schildknecht wurde er zum 29. November 1944 zur Luftwaffe bei Danzig einberufen. In Stolpemünde begann am 1. Dezember die Grundausbildung. Zum ersten Mal in seinem Leben sah Gerold Rotzler das Meer. Ein Ostseeurlaub wäre schöner gewesen. Denn nun folgte das Chaos. Wieder stand ihm das Glück zur Seite. Obwohl die Rote Armee mit Macht vorwärts drängte, wurde er nicht in den Kampf geworfen. Die jungen Soldaten waren noch nicht genug ausgebildet. Während Bolanz und Schildknecht nach Bremerhaven verlegt wurden, begann für Rotzler nach einer kurzen Infanterie-Ausbildung Ende Januar eine wahre Odyssee.
Weil die Russen näher rückten, folgten Gewaltmärsche durch Pommern sowie chaotische Zugfahrten quer durch das zerbombte Deutschland. Zumeist bei Nacht, tagsüber drohten Fliegerangriffe. In Göppingen wurde die Ausbildung fortgesetzt, dann kam im März 1945 die Verlegung nach Angermünde, circa 12 Kilometer westlich der Oder. Der Fluss bildete damals den Frontverlauf.
Nun wurde es ernst. Anfang April musste Rotzler gegen die erdrückende Übermacht der Roten Armee in den Kampf. Während viele andere starben, blieb er wie durch ein Wunder unversehrt. Am 24. April 1945 begann der Rückzug. Gerold Rotzler hat die Erlebnisse seiner Flucht durch Pommern und Mecklenburg in einem Tagebuch festgehalten, das sich als wertvolles Dokument der Kriegsgeschichte im Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen befindet.
Es ist eine Ironie des Schicksals: Hatten die Öflinger Rekruten 1944 Churchill angedroht, dass der Jahrgang 27 auf dem Marsch gegen ihn sei – so trachtete Gerold Rotzler nun sehnlichst danach, in englische Kriegsgefangenschaft zu gelangen. In die Hände der Russen wollte er unter keinen Umständen fallen. Wieder hatte er Glück. Am 4. Mai 1945 erreichte er das englische Kriegsgefangenlager in Boitzenburg an der Elbe. Nach mehreren Verlegungen wagte er von Munsterlager aus gemeinsam mit Eberhard Neef, seinem späteren Schwager, am 26. November 1945 die Flucht nach Öflingen. Am 4. Dezember saß er wieder am Tisch der Eltern in Brennet. Am 2. Januar 1946 feierte Gerold Rotzler seinen 19. Geburtstag und einige Tage später drückte er wieder die Schulbank im Säckinger Gymnasium – keinesfalls als sei nichts geschehen! Wer den Tod sah, weiß das Leben zu schätzen.