Ich persönlich bin sehr aufgebracht über das Ergebnis. Selbstverständlich habe ich, wie die Mehrheit vor Ort, gegen den Brexit gestimmt. Lewes entspricht nicht dem Durchschnitt. Es ist eine liberal geprägte Stadt, deren Bevölkerung überdurchschnittlich viele Akademiker hat. Die meisten Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sind sehr empört. Viele sind jedoch auch der Ansicht, dass es nur ein zeitlich begrenzter Wahnsinn ist und das Blatt noch gewendet werden kann.
Können Sie das Votum für den Brexit nachvollziehen?
Diese Abstimmung hätte niemals so stattfinden dürfen. Das Problem ist, dass viele Stimmberechtigte mit einem geringen Einkommen ihre Wahl getroffen haben, um der Regierung einen Denkzettel zu verpassen. Diese Leute geben den Zuwanderern die Schuld für ihre schlechte finanzielle Lage, obwohl die Gründe viel komplexer sind. Zudem war die Kampagne gespickt mit zweifelhaften Statistiken und massiven Übertreibungen. Abgesehen von dem wirtschaftlichen Aspekt wurden keine weiteren positiven Gründe für Europa herangezogen.
Wie wirkt sich der Brexit auf den Alltag in Lewes aus?
Sogar Flüchtlingshelfer wurden in der Innenstadt von Lewes schon mit offener Abneigung von einigen Vorbeikommenden behandelt. Das gab es noch nie zuvor. Der Wahlkampf vor der Abstimmung hat England entzweit und einen sehr unangenehmen Teil der englischen Gesellschaft hervorgebracht. Ich denke, dass die Betonung der zunehmenden Einwanderung und die damit einhergehende Hetzkampagne der Brexit-Anhänger das vermehrt auftretende rassistische Verhalten erklären kann.
Glauben Sie, dass Schottland jetzt aus Großbritannien ausscheiden wird?
Ich habe immer noch die Hoffnung, dass es eine zweite Abstimmung mit einem gegensätzlichen Ergebnis geben wird. Viele der Brexit-Befüworter haben bereits bemerkt, dass sie einen großen Fehler gemacht haben. Spätestens wenn in England erste Konsequenzen durch den Brexit auftreten, werden sich viele Leute sehr ärgern und von den Politikern im Stich gelassen fühlen. Sollte sich England dennoch endgültig von Europa ablösen, wird Schottland mit Sicherheit über seine Unabhängigkeit abstimmen, wobei die Europa-Anhänger dort die Mehrheit stellen. Ja, ich denke, dass der Brexit das Vereinigte Königreich auseinanderreißen kann.
Hat der Brexit Auswirkungen auf die Partnerschaft zu Waldshut-Tiengen?
Ich sehe keine Gründe, warum der Brexit die Beziehungen zu Waldshut-Tiengen oder zu unserer anderen Partnerstadt Blois in Frankreich negativ beeinflussen sollte. Vielmehr geht unsere freundschaftliche Beziehung sehr tief. Die Thematik des Brexits wird unsere Bemühungen, die enge Beziehung weiter zu festigen, antreiben, bis unsere Landsleute wieder zur Besinnung gekommen sind. Außerdem sind die Einwohner in Lewes selbst gewählte Europäer und werden sich mit Sicherheit nicht die europäischen Beziehungen wegnehmen lassen.
Welche Begegnungen sind in diesem Jahr mit Waldshut-Tiengen geplant?
Ich freue mich darauf, im Oktober Besucher sowohl von Waldshut-Tiengen als auch von Blois zu unserem Partnerschaftstreffen begrüßen zu dürfen. Zudem hoffe ich, Ihren Oberbürgermeister Philipp Frank und weitere Gäste zu den Bonfire Feierlichkeiten im November in Lewes zu treffen. Ich selbst werde mit meiner Assistentin Fiona Garth und einigen Regierungsbeamten zur Chilbi im August nach Waldshut kommen. Abschließend möchte ich noch einmal betonen, dass ich wirklich sehr aufgebracht bin über die momentane Situation bei uns. Ich versichere Ihnen, dass ich alles tun werde damit unsere Partnerschaft in keinster Weise darunter leidet.
Fragen: Gesa Jansen
Zur Person
Graham Mayhew (63) ist Bürgermeister der Waldshut-Tiengener Partnerstadt Lewes und zum vierten Mal im Amt. Er studierte Geschichte an der York University, war 33¦Jahre Lehrer an der University of Sussex und ist Autor verschiedener Bücher über das 16. Jahrhundert.
Hartmut Schölch: "Diese Krise schweißt noch näher zusammen"
Die Verantwortlichen für Schüleraustausch und Pflege der Partnerschaft sehen keine Beeinträchtigungen durch den Brexit.
- Schüleraustausch: Seit einigen Jahren wird laut Jennifer Beck vom Hochrhein Gymnasium in Waldshut versucht den klassischen Schüleraustausch zu Lewes wieder aufzunehmen. Dieses Jahr fand zum vierten Mal mit Schülern der Klasse 7 eine Fahrt nach Südengland statt. Sie wurden dort in Brighton, also unweit von Lewes, in Gastfamilien untergebracht. Jeder Schüler wird in Lewes einem englischen Schüler zugeteilt, mit dem er dann einen Schultag und die Freizeit verbringt. Den Rest der knapp einwöchigen Fahrt füllen Ausflüge in die Region und nach London. "Zum zweiten Mal kommt dieses Jahr im Juli eine kleine Schülergruppe der Lewes Priory School zu uns, die einen deutschen Schüler zu Besuch hatten", zeigt sich Jennifer Beck erfreut. Sie betont zudem, dass die Fahrten weiterhin unabhängig vom Brexit durchgeführt werden. Auch der Schulleiter Lothar Senser sieht hier keine Auswirkungen.
- Stadtverwaltung: Die Städtepartnerschaft zwischen Waldshut-Tiengen und Lewes funktioniert laut Kulturamtsleiter Hartmut Schölch viel auf Vereinsebene, wodurch sich tiefe Freundschaften entwickelten. Schölch ist sich sicher: "Diese Krise schweißt die befreundeten Vereine noch näher zusammen, anstatt der Beziehung zu schaden." Er sieht höchstens geringe Auswirkungen bei der Zollabfertigung. Die Partnerschaft wird weiter gepflegt: Dieses Jahr hat der englische Künstler Keith Pettit eine Skulptur für das 750-jährige Jubiläum in Schmitzingen angefertigt, welches Anfang Juli auf dem Wendeplatz am unteren Ortseingang errichtet wird. Nächstes Jahr wird er eine Ausstellung im Schloss Tiengen haben. Nach dem Treffen auf der Chilbi in Waldshut werden die Narrenzunft und die Waldstadtfäger im Herbst beim Umzug mitlaufen.
- Freundeskreis: Auch Markus Schmitt vom Freundeskreis Blois-Lewes betont die vielen persönlichen Beziehungen nach Lewes. "Europa geschieht im Austausch von Menschen und nicht nur politisch." Er ist der Meinung, dass der Brexit das Interesse der jüngeren Generationen für Europa weiter entfachen könnte und so auch der Schüleraustausch vermehrt Aufwind erfährt. Die Tendenz bestehe auf jeden Fall.