Ursula Freudig

Über 25 Meter hoch war der Industrie-Schornstein der Albert Stoll KG, aus dem es wie in vielen anderen Unternehmen auch in den 50er Jahren zunehmend rauchte. Er erhob sich in der damaligen Stoll-Stuhlfirma in der Waldshuter Brückenstraße vom Dach des einstigen Kesselhauses, in dem Holzabfälle verbrannt wurden, um Strom für die Produktion von Bürostühlen zu erzeugen. Das 1871 gegründete Familienunternehmen dürfte zu dieser Zeit keine 100¦Mitarbeiter gezählt haben, heute gehört es unter dem Namen Sedus Stoll AG mit Hauptsitz in Dogern und rund 1000 Mitarbeitern zu den führenden in der Büromöbelbranche.

Der Grundstein für die rasante Entwicklung der Stuhlfabrik ab den 50er Jahren war nicht nur dem Wirtschaftsaufschwung geschuldet, sondern der zielgerichteten, innovativen Weiterentwicklung einer genialen Erfindung unter der Regie des damaligen Firmenchefs Christof Stoll: 1926 hatte sein Vater Albert Stoll II. den weltweit ersten und mehrfach patentierten gefederten und drehbaren Bürostuhl entwickelt und auf den Markt gebracht. Unter Christof Stoll wurde der "Federdreh" zum Verkaufsschlager. Um mit der Nachfrage Schritt zu halten, erweiterte er in den 50er Jahren mehrmals sein Unternehmen und investierte in neue Produktionshallen und Maschinen.

Der Grad der Industrialisierung nahm stetig zu und die Werbung nahm einen immer wichtigeren Stellenwert ein. Prospekte aus jener Zeit muten für unseren heutigen Blick recht locker an: Gezeichnete kleine Männchen oder lächelnde Damen am Schreibtisch zeigen wie der Federdreh mit den Bewegungen der Sitzenden mitgeht. Christof Stoll führte mit Um- und Weitsicht sein Unternehmen und war dabei ein Selfmademan. Soweit als möglich machte er alles selber, um möglichst unabhängig von Zulieferern zu sein und höchsten Qualitätsansprüchen gerecht zu werden. Auch die Stuhlrollen wurden in den 50er Jahren selbst hergestellt.

Das heutige Gelände der von Christof und seiner Frau Emma gegründeten Stoll-Vita-Stiftung, entspricht in etwa der Fläche des Firmenareals Ende der 50er Jahre. Mit der Ausweitung der Produktion stieg auch die Zahl der Mitarbeiter, unter ihnen auch viele Lehrlinge. Ab 1953 kamen die Mitarbeiter in den Genuss einer Ergebnisbeteiligung. Christof und Emma Stoll waren in vielerlei Hinsicht ein ungewöhnliches und fortschrittliches Unternehmerehepaar. Besonders am Herzen lagen ihnen ökologisches Denken und Handeln sowie gesunde Ernährung. Sie propagierten und lebten beides nicht nur im privaten Bereich, sondern integrierten es in den Betriebsalltag. Vor dem heutigen Kaufland war in den 50er Jahren als Teil des Stoll-Firmenareals ein großer Garten mit Gemüse im biologischen Anbau und Schweinen. Das Gemüse und das Fleisch der Schweine landete auf den Tellern der Mitarbeiter in der Kantine, die in den 50er Jahren im Schützenhaus auf dem Chilbiplatz war.

Ab und zu fuhr das Ehepaar Stoll auch nach Italien und verlor die Mitarbeiter dabei nicht aus den Augen. "Sie packten das Auto mit Tomaten, Käse oder Kapern voll, in der Kantine oder bei Betriebsversammlungen stand dann alles auf den Tischen", erzählt Andreas Spieß, Mitarbeiter der Stoll-Vita-Stiftung. Wie er haben viele das fest in Waldshut verwurzelte Unternehmerehepaar gut gekannt und geschätzt. Besonders regen Kontakt zu Christof Stoll hatte Manfred Flum (69). Der in Bürgeln lebende gebürtige Waldshuter leitete von 1968 bis 2010 die technische Organisation der Sedus Stoll AG und betreut heute das von ihm aufgebaute Stoll Stuhl-Museum, das die Entwicklung des Sitzens auf Stoll-Stühlen von den Anfängen bis zur Gegenwart zeigt.

"Die jungen Damen saßen stundenlang regungslos auf Stühlen an der Schreibmaschine und sind durch falsches Sitzen krank geworden", sagt Manfred Flum mit Blick auf "Vor-Federdreh-Zeiten". Erst mit dem weltweit patentierten Federdrehstuhl der Firma Stoll wurde gesundes Sitzen zum Erfolgsmodell. Unter der Regie von Christof Stoll setzten Entwickler immer neue ergonomische Erkenntnisse konsequent in körpergerecht gebaute Bürostühle um. Die Beweglichkeit aller Stuhlteile, damit sie mit den Körperbewegungen mitgehen und sie unterstützen, ist bis heute Grundlage des sogenannten dynamischen Sitzens. Der ergonomisch geformte "Standard-Stoll-Federdreh" der 50er Jahre war aus Buchenholz. Nur einzelne Teile der Stuhlmechanik waren aus Metall. Gefertigt wurden die Holzstuhlteile in den 50er Jahren im sogenannten Bugholzverfahren, das bereits 1840 von Michael Thonet, bekannt für seine Wiener Kaffeehausstühle, erfunden wurde und die Stuhlherstellung revolutionierte.

Ein großes Buchenholz-Lager befand sich auf dem Stoll-Gelände. Nach Trocknen des Holzes wurde es dampfgegart, um danach in die gewünschte Form gebogen zu werden. "Um beispielsweise eine Rückenlehne zu runden, musste Buche rund zwei Stunden dampfgegart werden, Eichenholz wesentlich länger", erzählt Manfred Flum. Er schätzt, dass die Firma Stoll in den 50er Jahren 200¦bis 300¦Stühle monatlich herstellte. Genaue Zahlen existieren nicht. Preislisten hat Manfred Flum aber noch. 1957 kostete ein "Federdreh" in Standard-Ausführung 63¦DM, für Luxusausführungen war viel Luft nach oben. Ab Mitte der 60er Jahre wurde das Bugholzverfahren zum Auslaufmodell. Holz als Hauptmaterial wurde zunehmend von Sperrholz, Metallen und Kunststoffen verdrängt, sodass die Stühle noch komfortabler wurden und andere Produktionsverfahren zum Einsatz kamen.

Was geblieben ist und im Hinblick auf die Ergonomie auch bleiben wird, ist das Federdrehgrundprinzip: So viel Beweglichkeit aller Stuhlteile wie möglich. Die absolut ideale Sitzhaltung hat es für Christof Stoll aber nicht gegeben. 1960 schrieb er in der Fachzeitschrift "Bürotechnik + Organisation": "Der menschliche Körper ist für Bewegung geschaffen wir wollen uns darüber im klaren sein, dass der Stuhl einen Notbehelf darstellt, um das noch ungesundere Stehen zu vermeiden."

Das Stoll Stuhl Museum: Das Museum im Haus der Stiftung, Brückenstraße 15, in Waldshut spiegelt mit rund 60 Exponaten die Firmengeschichte. Manfred Flum steht nach Anmeldung (07751/842¦20) für kostenlose Führungen zur Verfügung.

Damals und heute

  • Unsere Serie: In der Serie „Gedächtnis der Region“ widmet sich der SÜDKURIER dem Wandel am Hochrhein in den vergangenen Jahrzehnten. In Bildpaaren zeigt unsere Zeitung, wie sich das Gesicht der Region verändert hat.
  • Ihre Bilder und Geschichten: Unsere Zeitung sucht historische und außergewöhnliche Bilder. Schicken Sie uns Ihre Erinnerungsschätze! SÜDKURIER Medienhaus, Bismarckstraße 10, 79761 Waldshut-Tiengen.
  • SÜDKURIER damals: Historische Themen sind ein Schwerpunkt bei SK plus, dem Angebot des SÜDKURIER im Internet. Dort finden Sie alle Teile der Serie: www.suedkurier.de/damals

Eckdaten der Firmengeschichte

  • Gründung: Albert Stoll I (1836 bis 1897) gründet 1871 zusammen mit Max Klock (scheidet 1879 aus) in Waldshut die Stuhlfabrik Stoll¦&¦Klock.
  • Erfindung: Albert Stoll II. (1882 bis 1937) gilt mit dem "Federdreh" als Vorreiter moderner Bürostuhl-Technik.
  • Standorte: Albert Stoll III.
    leitet ab 1937 den Koblenzer Betrieb, die Söhne Christof und Martin die Waldshuter Firma unter dem Namen Albert Stoll KG. 1958 Aufteilung des Familienunternehmens auf die Christof Stoll KG in Waldshut und die Martin Stoll, Federdreh-Stuhlfabrik in Tiengen. Christof Stoll führt für seine Produkte das Markenzeichen Sedus ein.
  • Expansion: Christof Stoll (1912 bis 2003) baute seine Firma zum weltweit agierenden Konzern aus, führte die Mitarbeiterbeteiligung ein, engagierte sich im betrieblichen Umweltschutz und war ab 1969 Wegbereiter für die schrittweise Verlagerung der Produktion nach Dogern. Für seine Verdienste erhielt er 1986 das Bundesverdienstkreuz, 1993 wurde er von der Zeitschrift Capital und der Umweltstiftung WWF Deutschland zum Öko-Manager des Jahres 1993 gewählt.
  • Stiftung: 1985 gründeten Christof und Emma Stoll die Stoll-Vita-Stiftung und übertragen ihr Vermögen auf sie. Die Stiftung hat die Mehrheitsbeteiligung an der Sedus Stoll AG. (ufr)