I"Alles haltlose Vorwürfe", kommentiert der Waldshuter Landrat Martin Kistler entschieden seine Vorladung zum Hochnotpeinlichen Malefiz-Narrengericht zu Tiengen, wo er am Samstag, 2. März, wegen "abscheulicher Missetaten und Verfehlungen" angeklagt wird. Dem obersten Behördenchef im Kreis wird unter anderem vorgeworfen, den östlichen Teil der Doppelstadt sträflichst zu vernachlässigen und "durch Verschleppung jeglicher Modernisierungsmaßnahmen die Düengemer Bürger bewusst an der Teilhabe an Wohlstand und Glück" auszuschließen, wie es in der mehrseitigen Anklageschrift heißt.
Klaus Danner, der in diesem Jahr erstmals als Ankläger des Narrengerichts fungiert, gibt Kistler einen Rat – schließlich hing er vor zehn Jahren selbst am Narrenrad, das dem Delinquenten blüht: "Am besten Reue zeigen." Ansonsten bestehe die Gefahr, dass der Auftritt des Landrats am heutigen Düengemer Obed dessen letzte offizielle Amtshandlung sein wird.
„Ich gehe davon aus, dass es regnet. Der Himmel wird weinen, weil mir so eine große Ungerechtigkeit widerfährt.“Landrat martin Kistler
"Haben wir eigentlich schon darüber gesprochen, wer der Nachfolger des Landvogts wird?", fragt Klaus-Dieter Ritz, Richter des Tiengener Narrengerichts, beim Anklagegespräch im Landratsamt in die Runde. "Also ich hätte Zeit – ich bin im Ruhestand", scherzt der pensionierte Polizeichef Klaus Danner. "Das hat der Landkreis nicht verdient", springt Verteidiger Bernd "Barney" Müller verbal für Kistler in die Bresche.
"Die Verhandlung steht. Wir hoffen auf schönes Wetter", freut sich Klaus-Dieter Ritz, der am Fasnachtssamstag um 11.11 Uhr im Hof vor dem Storchenturm zum sechsten Mal seines Amtes als Richter waltet. Dem widerspricht der Angeklagte: "Ich gehe davon aus, dass es regnet. Der Himmel wird weinen, weil mir so eine große Ungerechtigkeit widerfährt", jammert Kistler.
Der Delinquent, den das Hochnotpeinliche Malefiz-Narrengericht zu Tiengen als ersten Landrat überhaupt anklagt, versucht durch juristische Schlupflöcher, einer Strafe vielleicht doch noch zu entgehen: "Das kann aus formellen Gründen schon einen Freispruch geben", meint der studierte Rechtswissenschaftler zu seiner Vorladung, in der er auf Lateinisch und nicht auf Deutsch als "Dr. Martinus Andreas Kistler, natus est anno MCMLXXVI Domini nostri" tituliert wird. Ob ihm sein juristisches Fachwissen hilft, ist fraglich: "Das Urteil steht doch schon längst fest", lässt der Richter Kistlers letzten Hoffnungsschimmer wie eine Seifenblase platzen.
Wobei – eine kleine Chance gibt es für den Angeklagten noch: "Es ist durchaus möglich, dass wir vor Lachanfällen aufgrund der Verteidigungsversuche des Delinquenten gar nicht zur Vollstreckung des Urteils kommen", sagt Klaus Danner, der sich auf seine erste Anklage freut: "Dieses Amt ist eine Ehre. Wir hatten schon im Vorfeld so viel Spaß." Diesen werden auch die Zuschauer der närrischen Gerichtsverhandlung haben, versprechen die Mitwirkenden. "Die Leute werden wieder gut unterhalten", sagt Verteidiger Bernd "Barney" Müller.
Der Angeklagte selbst erwartet eine riesige Zuschauermenge: "Ich gehe davon aus, dass alle Mitarbeiter des Landratsamts und alle Bürger des Landkreises außer den Tiengenern meinen Freispruch fordern", gibt sich der Landrat siegessicher. "Da müssen wir aber eine Etage anbauen", meint Klaus-Dieter Ritz dazu. Schließlich fasse der Hof um den Storchenturm gar nicht so viele Menschen.
Das Hochnotpeinliche Malefiz-Narrengericht zu Tiengen geht auf eine Jahrhunderte alte Tradition zurück. Bereits 1503 verlieh Kaiser Maximilian I. den Tiengener Handwerkszünften das Recht, während der Fasnachtszeit die Obrigkeit zu verunglimpfen, ohne bestraft zu werden. Bis heute hat sich der Brauch gehalten. Seit 2003 wird das Urteil durch das berüchtigte Folterrad vollstreckt. "Manchen konnte es nicht schnell genug gehen, andere mochten es lieber langsam", erinnert sich Narrenrichter Ritz, der 2002 selbst angeklagt wurde, daran, wie die Delinquenten ihr Schicksal in den vergangenen Jahren annahmen.
Während es Christa Bader, Vorsitzende der Aktionsgemeinschaft Tiengen und 2014 erste weibliche Angeklagte, offensichtlich genoss, herumgewirbelt zu werden, sei der damalige CDU-Bundestagsabgeordnete Thomas Dörflinger nach der Fahrt mit dem Folterrad im Gesicht "kurz vor grün gewesen", wie Rolf Krämer, Chef der Henkergruppe, die das Urteil vollstreckt, berichtet. So schlimm kann es dem Politiker aber nicht ergangen sein, denn immerhin ist Dörflinger bislang der einzige Angeklagte, der zwei Jahre in Folge vor dem Narrengericht stand.

Wissenswertes zum Narrengericht
- Das Gericht: Das Hochnotpeinliche Malefiz-Narrengericht zu Tiengen, das seit dem Jahr 1503 historisch verbürgt ist, setzt sich aus Richter, Ankläger und Verteidiger (Fürsprech) zusammen. Die Henkergruppe vollstreckt das Urteil. Die Mitglieder des Tiengener Narrengerichts tragen eine weiß-gelockte Perücke, ein mit einer Halsrüsche verziertes weißes Hemd und darüber einen roten Mantel. Auf dem Kopf tragen sie ein rotes Barett. Die Henker tragen ebenfalls rote Gewänder, eine schwarze Kapuze mit Sehschlitzen und als Gurt einen Hanfstrick.
- Der Ablauf: Das Narrengericht findet im Rahmen der Hoorigen Mess am Fasnachtssamstag, 2. März, statt. Dem angeklagten Landrat Martin Kistler wird am Morgen zunächst ein Joch angelegt. Damit wird er durch die Innenstadt geführt, bevor das Narrengericht ab 11.11 Uhr im Innenhof beim Storchenturm tagt. Nach Verkündung des Urteils erwartet den Delinquenten seine Strafe. Martin Kistler wird zudem beim Düengemer Obed, der am heutigen Samstag, 23. Februar, um 20.11 Uhr in der Stadthalle Tiengen beginnt, den Besuchern als Angeklagter des Narrengerichts vorgestellt.