„Wenn noch alles so gut wäre wie das Gedächtnis.“ Das sagt Hans Studinger aus Waldshut. Er wird am 24. September 98 Jahre alt. Er kann von der Zeit vor 80, 90 Jahren so erzählen, als wäre es gestern passiert. Es ist noch alles präsent: Namen, Fakten, Details. Sein Gedächtnis ist messerscharf.

Menschen wie Studinger gibt es kaum noch: Menschen, welche die Nazi-Diktatur und den von ihr entfesselten Zweiten Weltkrieg noch bewusst erlebt haben. Er ist einer der wenigen Deutschen, die noch wissen, was Krieg bedeutet. Als im Februar 1945 Flugzeuge Albbruck angreifen, ist er, 17-jährig, gerade auf „Heimaturlaub“. Er hilft einem, die für die Bestattung der 32 Opfer nötigen Särge nach Albbruck zu bringen. Es sind seine ersten Toten. Er sagt: „Wie sie da so aufgebahrt im Saal des Hotels Albtal lagen, dieser Anblick lässt mich bis heute nicht los.“

Hans Studinger mit seiner Mutter, die als Bahnschrankenwärterin dienstverpflichtet war, hier stehen sie beim Waldshuter ...
Hans Studinger mit seiner Mutter, die als Bahnschrankenwärterin dienstverpflichtet war, hier stehen sie beim Waldshuter Schrankenwärterhäuschen. | Bild: Privat

Raketenjäger fliegen ohne ihn

Kurz davor, am 1. Januar 1945, wird er deutscher Soldat. Zu einer Einheit mit „Me 163“ soll er kommen. Dabei handelte sich um eine von Hitlers vermeintlichen „Wunderwaffen“. Die Maschine ist kein Propellerflugzeug, sondern mit einem Raketenantrieb versehen und soll, mit Schallgeschwindigkeit fliegend, feindliche Bomber abschießen. In Wirklichkeit sind es Himmelfahrtskommandos, die viele Piloten noch in den Tod hetzen. Viele Maschinen explodieren schon beim Start. Die Raketentreibstoffe sind hochaggressive Säuren. Treten diese durch Beschuss aus, wird der Pilot grauenvoll verätzt. Studinger muss zum Glück nie in eine solche Maschine steigen. Es stehen in den letzten Kriegsmonaten nur wenige davon zur Verfügung, zu wenige, dass sie für ihn noch „gereicht“ hätten. Zudem bringt der rasche sowjetische Vorstoß – sein Flugplatz liegt in der Tschechoslowakei – ohnehin alles durcheinander.

Drei Jahre verbrachte Hans Studinger im französischen Lager Calonne Liévin, wo er Kohle abbauen musste.
Drei Jahre verbrachte Hans Studinger im französischen Lager Calonne Liévin, wo er Kohle abbauen musste. | Bild: Privat

Aber dass sie ihn noch holen in einem sinnlosen Krieg, soll er später doch schwer bezahlen. Am 3. Mai 1945, nur fünf Tage vor der Kapitulation der Deutschen, gerät er in französische Kriegsgefangenschaft. Es geht also nicht nach Hause, sondern nach Frankreich, zur Zwangsarbeit in einem Kohlebergwerk im Norden. Die Eltern sind außer sich vor Sorge, wissen lange nicht, wo der Sohn, das einzige Kind, steckt. Mutter Therese versucht noch, ihn freizubekommen – vergebens. Unterwegs, in Mulhouse, wird er von einem französischen Soldaten misshandelt. Der Zug, der die Kriegsgefangenen transportiert, wird mit Steinen beworfen. Eine Zwischenstation heißt Blois. „Damit war ich wohl der erste Waldshuter in der künftigen Partnerstadt“, sagt Studinger lachend. Aber zu der Zeit sind die Franzosen noch keine Freunde. Sie haben den Krieg gewonnen und wollen jetzt die deutschen Feinde zum Wiederaufbau zwingen – hinter Stacheldraht.

Vom Kind zum Mann: Die drei Jahre Kriegsgefangenschaft veränderten Studinger auch optisch.
Vom Kind zum Mann: Die drei Jahre Kriegsgefangenschaft veränderten Studinger auch optisch. | Bild: Privat

Wohin der 17-Jährige kommt, nach Calonne-Lievin nahe der belgischen Grenze, hat sein Vater Johann, 1898 geboren, im Ersten Weltkrieg gekämpft. Jetzt ist der Sohn dort „Prisonnier de Guerre“ – Häftlingsnummer 639646. Was die Sieger mit ihm vorhaben, ist ungewiss. Wie lange wird es dauern? Wird er überleben? Wird er Waldshut wiedersehen?

Verschüttet in 600 Metern Tiefe

Was er weiß, ist, dass er hier Kohle abbauen soll, in 600 Meter tiefen Schächten. Zu essen gibt es dünne Suppe und Rüben. Einmal wird er verschüttet, bekommt kaum Luft, rechnet schon mit dem Schlimmsten. Aber ein Franzose rettet ihn. „Ich hatte viele Jahre danach noch Albträume davon“, erzählt er. Schläge durch das Wachpersonal sind an der Tagesordnung. Sie schicken ihn auch mit 39 Grad Fieber in den Schacht. Im August 1948, nach drei Jahren, kommt Studinger endlich frei. Er darf heim nach Waldshut.

Waldshut ist die Stadt seiner Kindheit. Aber er sagt: „Es war keine echte Kindheit.“ Unbeschwerte Tage sind ihm nur wenige vergönnt. Mit fünf Jahren, sieht er, wie kommunistische Arbeiterinnen und Arbeiter Ende 1932 nochmals gegen Hitler mobil machen. Sie kommen mit den Fahrrädern zur Kundgebung auf dem Johannisplatz. Es sind die Arbeiter vom Rheinkraftwerk Albbruck-Dogern, das zu der Zeit gerade in Bau ist, und die von der Lonza.

Hans Studinger mit seinem Vater Johann Studinger im Ruderboot (links) nahe dem damaligen Rheinbad, in dem der Vater ab 1932 als ...
Hans Studinger mit seinem Vater Johann Studinger im Ruderboot (links) nahe dem damaligen Rheinbad, in dem der Vater ab 1932 als Bademeister arbeitete. | Bild: Privat

Nach dem 30. Januar 1933, dem Tag der „Machtergreifung“ durch die Nazis, sind die Arbeiteraufmärsche verschwunden. Stattdessen marschieren am 1. April SA-Leute auf und das vor den Türen jüdischer Geschäfte in Waldshut. „Deutsche“ sollen so daran gehindert werden, darin einzukaufen. Der Boykott trifft Klara und Jenny Aufrichtig mit ihrem Schuhgeschäft in der Kaiserstraße 17. Er trifft Siegfried Aufrichtig, der in der Kaiserstraße 22 ein Herrenmodegeschäft führt. Später werden sie in Konzentrationslagern inhaftiert – und sind, falls sie überleben, davon für immer gezeichnet.

Fahrkarte statt Billet

Gleich schon 1933 meldet die Mutter Hans zur Hitlerjugend (HJ) an. „Begeistert war ich nicht. Aber wer dabei war, bekam am Wochenende keine Hausaufgaben auf“, weiß er noch. An der Schule bekommt er 100-prozentige Nazis als Lehrer vorgesetzt, teils sind sie schon vor 1933 in der Partei. Sie trichtern den Schülerinnen und Schülern ein, übliche Ausdrücke wie „Trottoir“, „Barriere“ und „Billet“ gegen „deutsche“ Wörter wie Bürgersteig, Schranke und Fahrkarte zu ersetzen. Ja selbst Helvetismen wie „Sali“ oder „Goalie“ sind jetzt verpönt. Auch heißt es: „Deutsche, kauft nicht in der Schweiz!“ Was unter den Deutschen am Hochrhein damals gang und gäbe ist.

Ein Klassenkamerad, der im NS-Jargon als „Halbjude“ gilt, wechselt an eine Schweizer Schule in Zurzach, weil ihm die deutsche verwehrt ist. Die Rassenideologie der Nazis ruiniert Existenzen, vergiftet das Klima, zerstört Freundschaften.

Auch auf die Familie selbst legt sich ein Schatten. Das Regime lockt den Vater mit Vergünstigungen in die Partei. Er ist Bademeister im Rheinbad vis-à-vis der Aaremündung. Der Sohn vermutet, dass er sich auch öffentlich kritisch gegenüber Hitler und dessen Kriegsvorbereitung geäußert hat. Jedenfalls hat bald die Polizei ein Auge auf die Studingers. Hans ist verdächtig, weil er trotz HJ-Mitgliedschaft Ministrant in der Pfarrgemeinde bleibt. Generell gelten Kirchgänger als suspekt. Johann soll sie aufschreiben und den NS-Stellen melden, was dieser ablehnt.

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Der Blockleiter, das unterste Glied des NS-Terrors, überwacht, ob die Leute den Boykott jüdischer Geschäfte einhalten und bei Sammlungen genug Winterkleidung für die in Russland frierenden deutschen Truppen spenden. Wer nichts oder aus Nazi-Sicht zu wenig gibt, landet im KZ oder Zuchthaus, so auch Fritz Sänger. Er ist damals Bandagist, versorgt also die wachsende Zahl von Kriegsversehrten mit Arm- und Beinprothesen. Als die Sammler kommen, ist der gerade vollauf beschäftigt – für die Nazis schon ein Akt des Widerstands. Um ihn einzuschüchtern, stellen sie ihm einen Galgen vor das Geschäft in der Löwengasse. Studinger muss das alles mitansehen und weiß noch, wie Sänger davon sein Leben lang traumatisiert bleibt.

1943 wird der 16-jährige Studinger zum Luftwaffenhelfer ernannt.
1943 wird der 16-jährige Studinger zum Luftwaffenhelfer ernannt. | Bild: Privat

Mit 16 wird er Luftwaffenhelfer

1939, kurz nach dem deutschen Überfall auf Polen, wird der Vater, obwohl schon 41, nochmals Soldat. Weil später fast alle Männer an der Front sind, wird auch die Mutter als Bahnschrankenwärterin dienstverpflichtet. Verpflichtet als Luftwaffenhelfer wird Hans am 15. August 1943. An dem Tag, auch das weiß er noch wie heute, kommt der Schulleiter in den Unterricht und gibt das bekannt, einfach so, ohne Möglichkeit zum Widerspruch. Jetzt geht es mit knapp 16 zum ersten Mal raus aus Waldshut, zur Ausbildung. Danach steht er mit anderen in Tiengen an einer Luftabwehrstellung. Sie haben jetzt nur noch jeden zweiten Tag Schule. So noch Abitur zu machen, kann er vergessen.

Nach der Kriegsgefangenschaft zurück in Waldshut, holt er es 1950, mit 23, nach. Sein langgehegter Wunsch, Lehrer zu werden, erfüllt sich indes nicht. Studinger wird Rechtspfleger. 1965 zieht er für die CDU in den Gemeinderat ein – und bleibt ohne Unterbrechung bis 2009 drin. Und er wird, gerade mit dem Schicksal als Kriegsgefangener in Frankreich, zum Wegbereiter der Versöhnung mit dem sogenannten „Erbfeind“, zum Vorkämpfer der Städtepartnerschaft mit Blois.

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Als Marcel Buhler, Blois‘ Bürgermeister zur Zeit der Unterzeichnung der Urkunde, 1980 stirbt, fährt Studinger für die Stadt Waldshut-Tiengen zur Beerdigung und betont in einer Rede: „Es darf nie mehr geschehen, dass französische und deutsche Frauen um ihre Männer und Söhne trauern und weinen müssen.“ Heute sagt er: „Diese Aussage war damals der Situation geschuldet. Natürlich gilt sie für alle Nationalitäten.“

Hans Studinger wird am 24. September 98 Jahre alt. Viel Zeit, das weiß er, bleibt ihm nicht mehr. Sorge macht ihm das Erstarken der AfD. Er appelliert: „Habt ein Auge auf diese Partei. Wenn ich höre, wie deren Vertreter sprechen, kehrt für mich die alte Sprache zurück. Sie haben viel vom Nationalsozialismus übernommen.“