Frau Balmer, was hat Sie dazu bewogen, sich als Kräuterfrau selbstständig zu machen?
Ich war Mitte 20 und lebte in Chur, da stellte ich fest, dass es dort zu Hauf Lindenblüten gab und niemand sich darum kümmerte. Ich sagte zu meinem Vater, dass das doch nicht normal wäre, dass niemand sie ernten würde und niemand mehr wüsste, wozu sie gut sind.
Gib doch Kurse, antwortete er mir und so fing es an. 1987 gab ich die ersten Kurse in der Schweiz und merkte, dass durchaus Interesse da war. Es zog dann immer größere Kreise. Schlicht nur eine Tätigkeit ist dies für mich aber nicht, ich empfinde es als Berufung, altes Menschheitsgut weiterzutragen.
Als Drogistin hatten Sie dafür schon eine solide Grundlage, oder?
Ja, ich wusste lange nicht, was ich werden will, aber für die Drogistenausbildung fing ich damals sofort Feuer. Heilpflanzenkunde ist ein Hauptteil der Ausbildung, man muss 150 Heilpflanzen kennen und wissen, wie und wann man ihre Inhaltsstoffe anwendet. Man sagt, gegen jede Krankheit ist ein Kraut gewachsen, da ist schon viel dran.
Sind denn alle Heilpflanzen von der Schulmedizin anerkannt?
Nein, es gibt zugelassene Arznei- oder Medizinalpflanzen und auf der anderen Seite sehr viele Heilpflanzen, die eher traditionell Verwendung finden, das Wissen über sie gehört zur Erfahrungsheilkunde. Diese Pflanzen werden kaum genau untersucht.

Zum Beispiel das Wiesenschaumkraut, es enthält scharfe Senfölglykoside, welche auf den Körper einwirken. Für die Schulmedizin ist die Pflanze nicht effizient genug. Die Erfahrungsheilkunde zeigt aber etwas anderes, sie hat ja auch einige Tausend Jahre auf dem Buckel, die Schulmedizin nur ein paar Jahrzehnte. Für mich ist die Erfahrungsheilkunde sehr wichtig.
Würden Sie mehr Zusammenarbeit begrüßen?
Ja, Schulmedizin und Naturheilkunde sollten viel mehr Hand in Hand arbeiten, das wäre zum Nutzen aller. Viele Medikamente basieren ja auf Wirkstoffen aus der Natur. Weiderinde zum Beispiel hilft bei Verletzungen, die Fieber verursachen.
Es enthält den gleichen Wirkstoff wie Aspirin, die Salicylsäure. Ein Staat sollte nicht vorgeben, wie Menschen zu behandeln und heilen sind. Wir haben alles delegiert. Die Gesundheit an den Arzt, die Seele an den Pfarrer, die Bildung an die Schulen, wir müssen meiner Ansicht nach wieder selber mehr Verantwortung übernehmen.
Lassen Sie uns jetzt über das reden, was wir gerade vor Augen haben – in Ihrem Garten wimmelt es nur so vor Kräutern.
Ja. Ich habe den Garten bewusst als Wildgarten angelegt. Ich schätze, hier wachsen über 100 einheimische Wildkräuter: Löwenzahn, Giersch, Wiesenknopf, Spitzwegerich, Bärlauch, Brennnesseln, das Wiesenschaumkraut, die Gundelrebe, um nur einige zu nennen.

Ich schätze alle Kräuter. Ich verwende sie als Heilmittel, als Lebensmittel und als Gewürz. Viele Kräuter kann man als Gemüse oder Salat essen, andere eignen sich zum Trocken, Einmachen, Blanchieren und auch zum Einfrieren.
Können Sie uns Beispiel nennen, wofür welche Kräuter gut sind?
Spitzwegerich zum Beispiel ist eine wichtige Hustenpflanze. Ich habe schon für meine halbe Bekanntschaft Spitzwegerich-Hustensaft gemacht, den Meisten hat er immer geholfen. Löwenzahn ist wichtig für die Verdauung. Alles, was wir essen, muss der Körper abbauen, sonst vergiftet er sich.
Man kann Löwenzahn als Salat essen oder ausgraben und die Wurzeln trocken, um daraus dann Tee zu machen. Legt man Löwenzahnknospen sauer ein, kann man sie wie Kapern verwenden. Auch aus Brennnesseln können viele leckere Gerichte bereitet werden oder man trinkt sie als Tee. Brennnesseln unterstützen unseren Stoffwechsel sehr vielseitig.
Giersch steckt auch voller Vitamine und Mineralstoffe, welche uns zum Beispiel bei Rheuma gut helfen. Und er schmeckt auch gut, im Salat oder gedämpft als Gemüse. Kräuter bieten unzählige Möglichkeiten. Auch Salben kann man aus ihnen machen.
Sind manche Wildkräuter nicht giftig?
Ich kenne viele Menschen, die Angst haben vor allem, was in der Natur wächst, weil es giftig sein könnte. Giftig ist aber nur ein sehr kleiner Teil. Die Eibe gehört dazu. Bei ihr ist alles giftig bis auf das Fruchtfleisch.
Auch wenn nur wenige giftig sind, sollte man also schon immer wissen, welche Pflanze man sammelt. Eines meiner Lieblingsgemüse ist zum Beispiel der Wiesenbärenklau. Ich höre dann oft, der sei giftig. Giftig ist aber nur der Riesenbärenklau. Wissen schafft Sicherheit, das gilt auch bei Kräutern.
Sie erwähnten die Angst vor allem, was in der Natur wächst – was sagt Ihnen diese Aussage?
Es ist faszinierend, wie weit unsere Gesellschaft von unserer natürlichen Umwelt weg ist. Kräuter sind ein wesentlicher Teil dieser Umwelt und für Tausende von Jahren waren sie die einzige Nahrungsquelle für die Menschen. Mit der Industrialisierung hat die Entfernung voneinander zugenommen. Dies zeigt sich auch darin, dass wir sagen, wir gehen in die Natur.
Wir betrachten die Natur als etwas außerhalb von uns, wir sind aber Teil von ihr. Der Mensch hat komplett verlernt, sich als Teil der Natur zu sehen. Wie respektlos wir ihr gegenüber sind, sieht man auch am Müll, den wir in ihr hinterlassen. Wir sehen nicht, dass es im Grunde eine Respektlosigkeit gegenüber uns selbst ist.
Wie sollten wir denn Ihrer Überzeugung nach mit Blick auf unsere Ernährung leben?
So natürlich, so saisonal und regional wie möglich. Es braucht zum Beispiel keine exotischen Chia-Samen oder Aroniabeeren. Unsere Pflanzen sind auch oft wahre Super-Food-Bomben. Von fast allen exotischen Pflanzen und Kräutern gibt es einheimische Varianten.
Leinsamen zum Beispiel ersetzt gut Chia-Samen. Wir essen grundsätzlich zu viel und auch falsch, vor allem zu wenig Grünzeug. Mit einem Kopfsalat zum Beispiel ist es aber nicht getan. Er hat viel Nitrat und kaum Nährstoffe. Wir sind überdüngt wie unsere Böden. Das zeigt sich auch darin, dass der Löwenzahn so zugenommen hat. Auf Magerwiesen wie meinem Garten ist Vielfalt noch möglich.
Sie wollen viel mehr, als „nur“ Wissen über Kräuter vermitteln, oder?
Ja, jemand hat mal gemeint, es stecke eine ganze Philosophie hinter meinem Kräuterwissen. Das stimmt irgendwie auch. Diese Aufmerksamkeit allem gegenüber, was esse ich, was gibt mir die Natur zu essen, wie kann ich es als Lebens- und Heilmittel nützen, wie gehe ich allgemein mit der Natur und auch meinem Nachbarn um – all das versuche ich, in meinen Seminaren und auf meinen Kräuterwanderungen zu vermitteln.
Und ich will auch zeigen, dass die Natur unsere Resilienz stärken kann. Ein schönes Bild für die Kraft der Natur ist der Löwenzahn. Er wächst in den kleinsten Ritzen des Asphalts und vermag diesen dann, zu sprengen.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Dass wir die Natur wieder mehr achten und Wildkräuter als Lebens- und Heilmittel öfter in unser Leben integrieren. Auch mit Blick auf das Klima sollten wir uns mehr um sie kümmern und sie beobachten: Wildkräuter sind sehr anpassungsfähig und können gut mit Hitze und Starkregen umgehen. Ich war einmal im Sommer drei Wochen weg und alles war verbrannt bis auf die Wildkräuter.