Mit zehn Jahren trank sie das erste Mal, mit zwölf Jahren regelmäßig, kurz danach täglich Alkohol. Die heute 50 Jahre alte Sabine Ponto wurde 1975 in Radolfzell geboren und wuchs in Hemmenhofen auf – mit einer Menge Alkohol. Nun spricht sie offen über ihr Leben mit einer Sucht, von der Millionen Menschen betroffen sind, auch oder gerade im ländlichen Raum. Denn Ponto möchte auf dieses Problem aufmerksam und Betroffenen Mut machen.
Sabine Ponto spricht laut und mit fester Stimme über diese dunkle Zeit. Sie nennt zwei Gründe für ihren frühen Alkoholkonsum. Einer ist ihre Familie. Bereits ihr Vater sei aus einer eher armen Alkoholiker-Familie gekommen, habe selbst getrunken und sei ein Choleriker gewesen. Die Mutter, in besseren Verhältnissen aufgewachsen, sei depressiv und gewalttätig gewesen. Ponto sagt: „Das war auch kein Klapps oder mal eine Ohrfeige, sondern ein Exempel an Gewalt.“ Auch die Mutter habe getrunken.
Alkohol als Flucht vor der Realität
Als zweiten Grund nennt sie die „Enge und Spießigkeit“ im Dorf und die alltägliche Gegenwart von Alkohol. „In den 1970er- und 1980er-Jahren wurde auf dem Land gesoffen. Das Thema Alkoholismus gab es noch nicht“, erinnert sich die Ponto. Bereits als Kinder hätten sie Alkohol und Zigaretten für die Eltern geholt, Ausweiskontrollen gab es nicht. Wenn sich die Frauen in Pontos Familie zum Sekttrinken trafen, habe sie schon mit zehn Jahren ein Glas angeboten bekommen. „Das war aber normal im Dorf“, sagt sie.
Diese Kombination habe ihr früh zugesetzt. „Ich war schon als Kind depressiv und wollte einfach nur weg oder sterben“, berichtet sie. Der Alkohol sei zu ihrer Zuflucht aus der Realität worden. Mit zwölf sei sie schon Alkoholikerin gewesen und habe morgens vor dem Schulunterrichter getrunken. „Ich habe den Alkohol überall herbekommen, von der Familie väterlicherseits, aus Läden, mit Freunden“, erklärt sie.
Im Alltag funktioniert sie trotz der Sucht – eine Zeit lang
Um den Konsum finanzieren zu können, habe sie mit zwölf Jahren begonnen, im Dorfladen zu arbeiten und sich um eine ältere Dame zu kümmern. Als sie 16 war, hätten sich ihre Eltern getrennt und ihre Mutter habe auch sie vor die Tür gesetzt. Ponto brach den Kontakt zur Familie für viele Jahre ab. Beim Trinken in Radolfzell habe sie einen deutlich älteren Mann kennengelernt, mit dem sie zusammengezog. Das Trinker- und Rockermilieu sei zu ihrer neuen Familie geworden.
Ihren Alltag habe sie dennoch hinbekommen. Anfang der 1990er-Jahre habe sie mehrere Ausbildungen absolviert. Bei der ersten wurde sie gekündigt, laut eigener Aussage aber nicht wegen ihrer Sucht, eine zweite als Zahnarzthelferin schloss sie ab. „Keiner hat gewusst, dass ich Alkoholikerin bin“, ist sie sich sicher.
Das änderte sich später: Erst Jahre, nachdem sie den Job als Zahnarzthelferin verlor, sei ihr klar geworden, dass ihre Sucht der Grund war. „Ich habe mich damals nicht als Alkoholikerin gesehen, weil ich es aus der Familie und dem Ort gewohnt war zu trinken“, erklärt sie.
Neun Millionen Deutsche trinken zu viel
Sabine Ponto ist eine von vielen. Denn laut Bundesgesundheitsministerium konsumieren 7,9 Millionen der 18- bis 64-jährigen Deutschen Alkohol in gesundheitlich riskanter Form. Ein problematischer Alkoholkonsum liegt sogar bei etwa neun Millionen Personen vor. 1,4 Millionen Menschen sind derzeit laut dem Institut für Gesundheitssystemforschung der Krankenkasse Barmer in Therapie wegen Alkoholismus.
Im Jahr 2020 seien in Deutschland rund 14.200 Menschen an Krankheiten gestorben, die ausschließlich auf Alkoholkonsum zurückzuführen sind. Bei 40.000 Todesfällen jährlich ist Alkohol einer mehrerer Faktoren. Besonders Menschen mit geringem Einkommen und im ländlichen Raum trinken laut Studien statistisch gesehen mehr Alkohol.
Im Jahr 2002, mit 27 Jahren, zog Sabine Ponto mit einem Mann nach Freiburg, berichtet sie, und habe auf eine Chance für einen Neuanfang gehofft. Doch ihr Leben dort sei genau gleich weitergangen. Das Umfeld bestand aus Kiffern und Trinkern, ihr Alltag aus täglichem Konsum und wechselnden Jobs: Haushälterin, Call-Center, Barfrau im Bordell. „Erst viele Jahre später wurde mir klar, dass ich beruflich nie Fuß fassen konnte, weil ich so süchtig war.“
Zwar habe sie immer wieder versucht, zuhause kalt zu entziehen. Erfolglos. Aus Therapien sei sie rausgeflogen – wegen fehlender Suchteinsicht. „Damit man die hat, muss man total am Arsch sein“, sagt Ponto.
Extremer Absturz wird zum Wendepunkt
Bei ihr war es im Jahr 2013 so weit. Sie sei wieder einmal gekündigt worden, habe danach bei einem Geburtstag total übertrieben. „Das war der eine Kater zu viel. Mir ging es total dreckig, ich hatte Depression und konnte wochenlang nicht sprechen.“ Sie habe an Suizid gedacht.
Doch dann habe sie sich an einen früheren Psychiater erinnert, der für eine medikamentöse Behandlung ihrer Depression ihre Abstinenz eingefordert hatte. Sie sei zu ihm, habe einen stationären Entzug aber verweigert und stattdessen abermals daheim einen Versuch gestartet – eine „schreckliche Erfahrung“, aber eine mit Erfolg. „Der Unterschied war, dass ich diesmal wirklich selbst trocken werden wollte“, so Ponto.
Auch heute noch süchtig, aber abstinent
Seit 2013 ist Sabine Ponto nun abstinent. Inzwischen lebt sie in Singen. Zwar bleibe man für immer eine Süchtige, sagt die 50-Jährige. Den extremen Drang zu trinken, verspüre sie sehr selten, obwohl Alkohol in ihrem Umfeld noch immer präsent sei. „Die Dämonen sind immer noch in mir, ich bin noch immer depressiv. Aber ich habe nicht mehr diesen krassen Drang abzustürzen, weil ich meine Medikation nehme und ein Leben habe, vor dem ich nicht flüchten möchte“, erklärt sie.
Wichtig für ihren Erfolg sei eine feste Alltagsstruktur. Sie habe eine gute und ruhige Arbeit in einer Einrichtung in Singen und lebe zurückgezogen und bewusst ohne Smartphone in ihrer Wohnung. Sie vermeide Stress, das alte Milieu und Situationen, in denen Erinnerungen an die gewalttätige Familie hochkommen. Ihre Zufluchtsorte seien inzwischen Malen, Lesen und Schreiben – und anderem Bücher über ihre Sucht.
Rückblickend betont Ponto: „Ich schäme mich für nichts.“ Klar sei ihr aber auch, sagt sie: „Ohne professionelle Hilfe wäre ich schon lange tot.“