Eine Sekunde veränderte sein Leben auf tragische Weise – und ebnete zugleich den Weg zu sportlichen Triumphen. Eigentlich sollte Bruno Haßler Landwirt werden und den elterlichen Unterbühlhof auf der Höri übernehmen. Doch mit 17 Jahren hat er 1969 einen schweren Motorradunfall. Danach ist für den Öhninger nichts mehr wie zuvor.

Seine Wirbelsäule ist gebrochen, Blut fließt in den Rückenmarkskanal, gerinnt dort und zerstört Nerven. Seine Beine sind gelähmt, sein linker Arm stark eingeschränkt, nur sein rechter Arm bleibt zum Großteil funktionsfähig. Anstatt auf einem Traktor sitzt Haßler von nun an im Rollstuhl, anstatt Landwirt wird er mehrfacher Tischtennis-Olympiasieger im Behindertensport.

Blick auf eine erfolgreiche Karriere: Gold-, Silber- und Bronzemedaillen von drei paralympischen Spielen sowie mehreren Welt- und ...
Blick auf eine erfolgreiche Karriere: Gold-, Silber- und Bronzemedaillen von drei paralympischen Spielen sowie mehreren Welt- und Europameisterschaften. | Bild: Mario Wössner

Jetzt, in diesen letzten Augusttagen, sitzt Bruno Haßler viel vor dem Fernseher. Er schaut sich die Paralympics an, die seit Mittwoch, 28. August, in Paris stattfinden. „Ich werde zum Fan“, erzählt er zuhause in seiner Wohnung in Öhningen, wo er 1987 mit seiner Schwester ein Haus gebaut hat. Auf den ersten Blick erinnert hier nur wenig an seine Erfolge. Die Tischtennisutensilien seien verstaubt, die Medaillen sind in einem Koffer im Wohnzimmer. Nur vor ihm ausgebreitet auf dem Tisch liegen etliche Bilder. Sie zeigen Siege, Ehrungen – und einen Rückblick auf einen steinigen, aber erfolgreichen Weg.

Perspektive nach dem Unfall: Tischtennis statt Alkohol

„Nach dem Unfall war ich natürlich verzweifelt. Andere greifen zur Flasche, wenn sie mit 17 im Rollstuhl landen. Ich wollte aber das Beste daraus machen“, erzählt Haßler. In einer Spezialklinik sei er einige Zeit nach dem Unfall erstmals auf andere Rollstuhlfahrer getroffen. „Zu sehen, dass ich nicht der einzige bin, hat mir Mut gemacht. Und ich hatte Glück mit meinem Elternhaus“, berichtet er.

In der Reha spielt Haßler Tischtennis. „Da konnte ich erstmals nach meinem Unfall wieder Sport mit meinen Freunden machen. Das hat mir Freude bereitet“, sagt er. Den Rollstuhl befestigt Haßler dazu am Boden, der Schläger ist an der rechten Hand angebunden, da er nicht mehr gut zugreifen kann. „Das ging genauso gut“, so Haßler. Der Sport sollte ihn nie wieder loslassen.

Viele Erfolge: Bruno Haßler im Jahr 1999 bei einer Ehrung in Öhningen.
Viele Erfolge: Bruno Haßler im Jahr 1999 bei einer Ehrung in Öhningen. | Bild: SK-Archiv

Während er beruflich zum Industriekaufmann umschult und ab 1977 in der Verwaltung des Radolfzeller Krankenhauses arbeitet, kämpft Haßler sich im Tischtennis nach oben. Im Jahr 1977 beginnt er beim Tischtennisverein in Bankholzen. Es sind Spiele gegen, wie Haßler sagt, „Fußgänger“ – also Menschen ohne Behinderung. Wenig später wechselt er nach Radolfzell, trainiert fortan zweimal wöchentlich.

Ab und an spielt er auch gegen Rollstuhlfahrer, um sich auf den Leistungssport gegen andere Behinderte einzugewöhnen. „Gegen Rollstuhlfahrer bekomme ich den Ball schneller zurück, weil die keinen Schritt zurück gehen können. Da muss ich schneller reagieren“, erklärt er den Unterschied.

Medaillen bei vier Olympischen Spielen

Dann kommen die Erfolge. 1977 wird er bei den Deutschen Meisterschaften Zweiter, 1978 nimmt er in England an den „Stoke Mandeville Games“ teil. Diese gelten als Ursprung der Paralympics. 1979 wird Haßler Weltmeister im Tischtennis, 1980 holt er bei seinen ersten Olympischen Spielen für Behinderte Team-Gold und wird im Einzel Dritter. 1981 folgt der Europameisterschaftstitel in Basel, 1984 holt er zweifach olympisches Gold in England. „Die Goldmedaille bei den Paralympics, etwas Größeres gibt es als Sportler nicht, total emotional.“

Doch die größten Höhepunkte stehen noch bevor: Bei den Paralympics 1988 in Seoul holt er wieder zweimal Gold. „Das waren die ersten Spiele, die richtig Großstadtcharakter hatten. Wir haben unseren Sport in denselben Arenen wie die Fußgänger gemacht. Wir sind damals zur Eröffnung in das große Stadion vor 100.000 Zuschauern eingelaufen – oder besser, eingerollt. Das war Wahnsinn“, erzählt er mit leuchtenden Augen.

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Arzt verbietet ihm das Tischtennisspielen

Bei der Weltmeisterschaft 1991 gewinnt er dank eines taktischen Kniffs gegen zwei junge, aufstrebende und favorisierte Österreicher. „Im letzten bedeutungslosen Gruppenspiel gegen einen von ihnen habe ich mich bereits fürs Halbfinale geschont“, erzählt er. Denn das sollte nur eine Stunde später stattfinden. „Er hat gegen mich gewonnen, hat gejubelt und alle Emotionen rausgelassen.“

Ein Fehler, ist sich Haßler sicher. „Solche engen Matches sind emotionale Kämpfe, da darf man nicht zu früh die Spannung verlieren“, erklärt er. Haßler gewinnt sein Halbfinale, der starke Österreicher hingegen scheitert.

Stolzer Moment: Bürgermeister Andreas Schmid ehrt Bruno Haßler im Jahr 1999 für dessen sportlichen Erfolge.
Stolzer Moment: Bürgermeister Andreas Schmid ehrt Bruno Haßler im Jahr 1999 für dessen sportlichen Erfolge. | Bild: SK-Archiv

Doch Haßlers Karriere neigt sich dem Ende: 1992 in Barcelona nimmt er ein letztes Mal an den Paralympics teil. „Da haben wir gelebt wie Gott in Frankreich“, sagt Haßler beim Gedanken ans olympische Dorf, das reichhaltige Buffet inklusive unbegrenztem Eis-Vorrat und die Atmosphäre. Doch danach ist Schluss.

Im Jahr 1995 rät ihm sein Arzt von weiterem Leistungssport ab, seine Wirbelsäule sei noch mehr beschädigt und bei ruckartigen Kopfbewegungen würden weitere Lähmungen drohen. Haßler hängt die Schläger an den Nagel. Die Bilanz: 18 Deutsche Meistertitel, acht Europameister- und fünf Weltmeistertitel sowie vier olympische Goldmedaillen und 19 Jahre Nationalmannschaft.

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Hätte alles ganz anders kommen können?

In den Jahren danach bleibt Haßler als Mitglied im Radolfzeller Tischtennisverein dem Sport verbunden. Er engagiert sich im Vorstand, als Damen- und als Nachwuchstrainer – und erfährt von seinem Arzt, das sein Leben ganz anders hätte verlaufen können. Auf einem modernen MRT habe man gesehen, dass seine Wirbelsäule damals zwar gebrochen, aber nicht verschoben war. „Wäre der Unfall heute passiert, wäre ich vielleicht kein Rollstuhlfahrer“, sagt Haßler.

Wut oder Reue empfinde er aber nicht. „Diese Nachricht hat mir keine schlaflosen Nächte bereitet, man konnte es sowieso nicht mehr ändern. Ich bin froh, dass ich überhaupt überlebt habe“, sagt er.

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Denn Haßler war immer positiv, ein Kämpfer, wollte immer möglichst selbstständig sein. Inzwischen aber macht auch die rechte Schulter Probleme wegen der jahrelangen Belastung, die Kraft lasse nach. Seine Schwester, enge Schulfreunde von früher und der Sozialdienst helfen ihm im Alltag. Doch von Aufgeben keine Spur.

„Damals mit 17 Jahren, 1,83 Meter groß und 80 Kilo schwer – ich dachte, ich reiße die Welt ein. Doch der Unfall hat mich sozusagen zurück in den Mutterschoß geworfen. Wenn es jetzt nicht mehr anders geht, dann muss man sich eben wieder auf Hilfe einstellen. Aber verbittern ist Quatsch, man muss immer vorangehen“, so der 72-Jährige.