Anni Conrad dürfte zu den ersten gehören, die sich in Deutschland mit dem Coronavirus angesteckt haben. Im April 2020 sei es passiert, erzählt sie. Und zwar im privaten Umfeld, nicht bei ihrer Arbeit in der Altenpflege. Inzwischen ist die gelernte Krankenschwester aus der Heilbronner Gegend seit mehreren Wochen zu einem Rehabilitationsaufenthalt in der Schmieder-Klinik in Gailingen.

Damals habe sie das Gefühl gehabt, dass es ihr sehr schlecht gehe – „aber nicht so, dass ich in ein Krankenhaus wollte“, erzählt sie im Rückblick. Drei Wochen sei sie in Quarantäne gewesen, eine weitere Woche habe sie auf den Kontrollabstrich warten müssen. Doch wirklich besser sei es nie geworden: „Die Atemnot blieb und auch das Herzklopfen.“

Jede Belastung fiel noch schwerer

Die Corona-Tests waren zwar nach der akuten Infektion negativ, doch es wollte ihr einfach nicht besser gehen. Dennoch seien die Symptome nicht wie in der akuten Phase der Infektion gewesen, erzählt Conrad. Bei Belastung habe sie Fieber entwickelt, das sei auch jetzt noch so. Eine immense Schwäche hielt sich hartnäckig, an ein einstündiges Gespräch mit einem Reporter wäre vor einem Jahr noch nicht zu denken gewesen, erzählt sie.

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Im Mai 2020 kam es zu einer ersten Überlastungssituation. Eine Freundin hätte sie besuchen wollen. Kuchen backen, die Wohnung herrichten und was man sonst noch vor einem solchen Besuch macht, seien aber zu viel für sie gewesen: „Da wurde mir klar, dass es nicht so läuft, wie es sollte“, sagt Anni Conrad. Da habe sie auch gemerkt, dass intensives Training nicht helfe, sondern sie eher zurückwerfe. Ihr Hausarzt habe dann gewissermaßen mit ihr gelernt, was Long Covid bedeutet. Denn standardisierte Behandlungsansätze oder gar fertige Therapien gab es noch nicht.

Sie müsse immer mit ihren Kräften haushalten

Selbsthilfegruppen gab es aber – als eines von wenigen Informationsangeboten in der Frühphase der Pandemie. Eine bundesweit aktive Gruppe habe sie im Juni 2020 gefunden und sei weiterhin in der Long-Covid-Selbsthilfe aktiv, sagt Anni Conrad. Diese Gruppe, Long Covid Deutschland, sei auch eine Stimme, die in der Politik gehört werde, sagt sie.

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Jetzt spürt sie Einschränkungen nicht nur bei der körperlichen Fitness, etwa beim Treppensteigen oder bei Steigungen. „Ich tue mich auch schwer mit Zahlen“, erzählt sie. Früher habe sie Insulinpläne von Patienten im Kopf ausgerechnet, heute werde der Umgang mit Zahlen sehr anstrengend. Manchmal sei sie auch stundenlang bewegungsunfähig. Das sei dann so, als ob man daliege und sich selbst beim Schlafen zusehe. Im Prinzip müsse sie immer mit ihren Kräften haushalten. Es gehe nur einkaufen oder staubsaugen, aber nicht beides am gleichen Tag.

Bis zu 2,7 Millionen Menschen könnten in Deutschland an Long Covid leiden

In Gailingen absolviert die Altenpflegerin aktuell ihre zweite Reha, bei der sie zu Kräften kommen soll. Ein erster Aufenthalt war im Frühjahr 2021 in Königsfeld. Die Gailinger Klinik hat einen Schwerpunkt auf die Behandlung von Long-Covid-Patienten gelegt. Der Ärztliche Leiter des Standorts, Christoph Herrmann, berichtet, dass 2021 mehr als 600 Patienten mit länger anhaltenden Symptomen nach einer Corona-Infektion bei den Kliniken Schmieder behandelt wurden. Mehr als 250 davon seien in Gailingen in Behandlung gewesen.

„Man kann Long Covid derzeit nicht heilen.“ Christoph Herrmann, ärztlicher Leiter der Schmieder-Klinik in Gailingen
„Man kann Long Covid derzeit nicht heilen.“ Christoph Herrmann, ärztlicher Leiter der Schmieder-Klinik in Gailingen | Bild: Manuel Friedrich / Kliniken Schmieder

In den ersten vier Monaten dieses Jahres seien es in Gailingen bereits 118 Fälle gewesen. Seine Schlussfolgerung lautet, dass der Behandlungsbedarf an neurologischer Rehabilitation für diese Patienten zunehme.

Und der Ärztliche Leiter nennt noch eine Zahl, die das Ausmaß verdeutlicht: Etwa zehn Prozent der Corona-Patienten würden Symptome von Long Covid entwickeln. Bei etwa 27 Millionen Fällen von Covid-19-Infektionen könne man von bis zu 2,7 Millionen Menschen ausgehen, die an Long Covid erkranken. Und diese könne man nicht im eigentlichen Sinne heilen.

Blick auf die Schmieder-Klinik in Gailingen (im Vordergrund) bis auf die Hegau-Vulkane. Das Luftbild aus dem Archiv zeigt die Klinik ...
Blick auf die Schmieder-Klinik in Gailingen (im Vordergrund) bis auf die Hegau-Vulkane. Das Luftbild aus dem Archiv zeigt die Klinik noch mit dem alten Haus Baden. Im Herbst hat das Reha-Unternehmen einen Neubau in Betrieb genommen. | Bild: Hfr

Faszinierend findet Anni Conrad, dass es bei den Long-Covid-Patienten in der Reha-Klinik völlig unterschiedliche Einschränkungen gebe. Manche könnten nicht mehr schlafen, bei anderen versage die Feinmotorik. Ihre eigenen Symptome machen ihr keine Angst, sagt Conrad. Doch sie stelle sich darauf ein, mit Einschränkungen weiterzuleben. Als Krankheitsbild, das sie befürchtet, nennt sie ME/CFS.

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Die Abkürzung steht für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom. Gemeint ist eine Krankheit, die verschiedene Symptome mit sich bringt, die sich nach geringer körperlicher oder geistiger Anstrengung verschlechtern, wie es beim Verein Deutsche Gesellschaft für ME/CFS heißt. Als häufigen Auslöser nennt der Verein Virusinfektionen. Auch eine Untergruppe der Long-Covid-Erkrankten entwickle diese Krankheit. Anni Conrad sagt: „Ich verweigere mich, genauer über die Zukunft nachzudenken.“ Möglicherweise komme einmal ein Job, den man für ein paar Stunden am Tag vom Bett aus machen könne.

Lange Krankheit ist auch ein Armutsrisiko

Fühlt sie sich in ihrer Situation gut versorgt? Da muss Anni Conrad nicht lange überlegen: „Nein, für ME/CFS-Patienten gibt es keine Versorgung.“ In der Reha-Klinik gehe es ihr zwar richtig gut, weil sie sich nicht um den Haushalt und andere Kleinigkeiten des Lebens kümmern muss. Sie habe Zeit, um Dinge auszuprobieren. An eine Rückkehr in ihren alten Beruf sei aber nicht zu denken – dafür sei sie zu wenig belastbar.

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Und eine langwierige Krankheit wie Long Covid sei auch ein Armutsrisiko. Denn nach sechs Wochen Lohnfortzahlung und 72 Wochen Krankengeld der Krankenkasse habe sie Arbeitslosengeld I bekommen – auch mit bestehendem Arbeitsvertrag, erzählt Anni Conrad, die Arbeits- und Sozialrecht als ihr Hobby bezeichnet.

Erwerbsminderungsrente als letzter Ausweg?

Sie habe ein Jahr Anspruch auf Arbeitslosengeld I gehabt, danach komme Arbeitslosengeld II – besser bekannt unter dem Namen Hartz IV. „Deswegen stellen viele Betroffene einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente“, sagt sie. Die sei aber schwer zu bekommen. „Aus der ersten und zweiten Corona-Welle kämpfen viele brutal um die Anerkennung ihrer Einschränkungen. Und bei vielen geht es ums Überleben“, erzählt sie aus der eigenen Praxis in der Selbsthilfe.

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Ihr Appell lautet daher: „Die Mitarbeiter, die diese Entscheidungen treffen, müssen uns einfach glauben“ – zum Beispiel wenn eine Mutter wegen Long Covid ihre Kinder nicht mehr versorgen kann. „Es gibt sicher Trittbrettfahrer, aber nicht in der Masse, wie wir täglich in der Selbsthilfegruppe Menschen trösten müssen“, lautet ihr Fazit.