Gailingen „Eine Partnerschaft und ein großes Publikum blieben ihr verwehrt. Doch gerade aus dieser Lage heraus wuchs sie zur bewussten und Aufsehen erregenden Dichterin. Interessant ist ihre Beziehung zu Jacob Picard, dem bekannten Dichter des süddeutschen Landjudentums, aufgewachsen in Wangen am Untersee. Darüber wissen wir nur wenig.“ Dennoch wusste Ina Appel, Leiterin des Jüdischen Museums Gailingen, am Abend zu Ehren der Schriftstellerin Gertrud Kolmar Wichtiges zu berichten. Sie zähle zu den größten und bedeutendsten Lyrikerinnen jüdischer Abstammung und gelte als gleichrangige Autorin neben Annette von Droste-Hülshoff, Nelly Sachs und Else Lasker-Schüler. Doch sind ihre Arbeiten, die in der Zeit des Nationalsozialismus durch den Einsatz der nächsten Verwandten vor der Vernichtung bewahrt wurden, bis heute relativ unbekannt geblieben.

Hermann Kasack habe 1947 die Bedeutung Kolmars erkannt und ein schmales Heft „Welten“ im jüdischen Suhrkamp Verlag herausgebracht. Da war die Autorin schon tot. Gertrud Kolmar wurde 1894 in eine bürgerlich jüdisch-assimilierte Familie hinein geboren. Am 27. Februar 1943 wurde sie im Rahmen der sogenannten Fabrikaktion verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Dort wurde sie wenige Tage später von den Nationalsozialisten vergast.

1950 konnte Kasack dann die Sammlung als Publikation der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung herausbringen. Picard schrieb dazu ein Nachwort, in dem er Bezug nimmt auf einen Brief Kolmars vom Oktober 1941 an eine Verwandte, die gerettet wurde. Damals hatte die Deportation der Juden in Deutschland nach den östlichen Vernichtungslagern schon seit mehr als eineinhalb Jahren begonnen. Sie schreibt über das Gefühl der Beraubung der Freiheit, sowie des wehrlosen, hoffnungslosen Ausgeliefertseins und der steten Todesgefahr. Der letzte Brief von ihr gelangte im Februar 1943 an ihre Schwester in der Schweiz.

Die Schauspielerin Heinke Hartmann aus Konstanz, die Musikerin Stefanie Jürgens und der Historiker Oswald Burger, beide aus Überlingen, nahmen die Besucher der lyrisch-musikalischen Soirée mit in den Kosmos von Gertrud Kolmar. Dieses besondere Format mit der Vorstellung von Person und Werk durch Oswald Burger, einer sehr ausdrucksstarken Lesung der Texte durch Heinke Hartmann und der einfühlsamen musikalischen Reflexionen durch Stefanie Jürgens begeisterte das Publikum.

Ursprünglich lautete ihr Familienname Chodziesner. Chodzies steht für die Stadt Colmar im Elsass. Sie wuchs als ältestes von vier Geschwistern in Berlin-Westend, damals noch ein ziemlich ländlicher Villenvorort, als Tochter eines sehr bekannten Anwalts der Hauptstadt auf. Der Vater stammte aus der Provinz Posen, die Mutter entstammte einer alteingesessenen märkisch-jüdischen Familie. Die Beziehung zur Natur, zu verwilderten Gärten und zu den nahen Wäldern wurde ihr in die Wiege gelegt. Nach dem Besuch der Höheren Schulen arbeitete Gertrud Kolmar als Sprachlehrerin in Französisch und Englisch, als Dolmetscherin des Auswärtigen Amtes im Kriegsgefangenenlager Döberitz bei Spandau und in verschiedenen Familien.

Erste Gedichtzyklen entstanden und 1917 erschien ihr erster Band. Der Vater war der Schöpfer ihres Pseudonyms Kolmar. Es handelte sich offenbar um eine Wiedergutmachung, denn Gertruds große Liebe mit dem Offizier Karl Jodel scheiterte und die Eltern erzwangen den Schwangerschaftsabbruch. Ein späteres Liebesabenteuer mit Karl Josef Keller scheiterte ebenfalls auf dramatische Weise. Dies alles lies Kolmar ihr Leben lang nicht mehr los. Es wurde in den rezitierten Gedichten wie „Leda, die Gesegnete und die Verlassene“ deutlich spürbar. Der letzte Band ihres Schaffens konnte 1938 gerade noch erscheinen, kurz vor der Reichspogromnacht, wo viele Bücher verbrannt wurden.

Kolmar machte viele dramatische Erfahrungen, so unter anderem die Emigration der Geschwister ins Ausland, die Pflege der Eltern, die Vertreibung aus der elterlichen Villa in ein „Judenhaus“ in Berlin-Schöneberg, die Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie, die Deportation des Vaters nach Theresienstadt und dessen Ermordung. Sie zog sich immer mehr zurück, litt und rebellierte.