Das Warten hat ein Ende. Die Luft vibriert vor lauter Musik. Laut hallt der Schlachtruf der Heilsberghexen durch die Straßen von Gottmadingen: ein dreifaches „Heilsberg – Hexee!“ Zwischen bunten, zahlreich verkleideten Menschen am Straßenrand, lauter Musik und aufgeregtem Gelächter laufen Nadine Bödeker, ihr Mann Dejan und ihre Kinder Luca, Mylo und Lia durch das Menschen-Gewusel am Bahnhof. Keine Wolke trübt den Himmel und trotz der winterlichen Jahreszeit liegt Frühlingsduft in der Luft. In wenigen Minuten setzt sich der Umzug in Bewegung – der Höhepunkt der Fasnacht in Gottmadingen.
Denn die vielen Umzüge und närrischen Treffen machen die Vereinsmitgliedschaft für die Familie Bödeker zum Jahresprojekt. Doch wie bereitet sich eine fünfköpfige Familie auf den Rosenmontagsumzug vor? Warum tut man sich das eigentlich an – die Organisation, die vielen Stunden im Häs und das Konfetti in jeder Ritze des Körpers? Die Antwort liegt irgendwo zwischen Gemeinschaftsgefühl, Heimatliebe und der Lust, für ein paar Tage jemand ganz anderes zu sein.
Vorbereitungen unter besten Bedingungen
Die ersten Sonnenstrahlen tauchen den Narrenbaum in der Dorfmitte in goldenes Licht. Vögel zwitschern aufgeregt, als wüssten sie, dass etwas Großes bevorsteht. Bereits um 9 Uhr herrscht auf dem Hebelplatz ein reges Treiben. Elf Männer, darunter Familienvater Dejan, bauen in nicht einmal zehn Minuten das Barzelt der Heilsberghexen auf. Nicht nur hier laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren, sondern auch bei Familie Bödeker zuhause.

Schon von außen ist zu erkennen, dass hier eine närrische Familie wohnt. Vom obersten Dachfenster hängt eine Fahne mit dem Vereinslogo: „Heilsberghexen Gottmadingen e.V. 1956“. Im Haus läuft das Lied „Schatzi, schenk mir ein Foto“. Die Kinder haben aufgrund der Ferien etwas länger geschlafen. Doch gegen 9.30 Uhr versammeln sich der 17-jährige Sohn Luca und Vater Dejan, der gerade von seinem ersten Arbeitseinsatz auf dem Hebelplatz zurückgekommen ist, am gedeckten Esstisch.

Währenddessen trommelt Mutter Nadine die jüngeren Geschwister, den 13-jährigen Mylo und die zehnjährige Lia, zusammen. Alle tragen bereits einen Teil ihres Häs: weiße lange Unterhosen, Ringelsocken und das schwarze Vereinsshirt. Luca ist erstaunlich fit: „Auch wenn die letzten Tage lang waren – an Fasnacht stehe ich trotzdem gerne früh auf!“, sagt er grinsend und nimmt sich ein Croissant.
Von der Begeisterung eines Kindes zur Familientradition
Ursprünglich stammen Nadine aus Engen und Dejan aus Tuttlingen, doch die Familie Bödeker lebt seit über 20 Jahren in Gottmadingen. Dass sie heute so tief in der Tradition der Heilsberghexen verwurzelt ist, liegt vor allem an Luca. Schon als kleiner Junge war er fasziniert von den Gottmadinger Hexen. Als auch seine jüngeren Geschwister alt genug waren, trat die Familie 2019 dem Verein bei.

Nach dem Frühstück geht alles ganz schnell. Dejan hat keine zehn Minuten, bis er wieder los muss. Erst den Müll des Vereins entsorgen, dann den Holder – eine Art kleinen Traktor – aus dem Hexenkeller unter der Fahrkantine holen. „So, jetzt ziehen wir uns an!“, sagt Mutter Nadine und klatscht ihre Hände zusammen. Oben in Mylos Zimmer werden die Häser aus dem Bettkasten geholt.

Das steckt hinter dem Häs und den Masken
Ein Häs besteht aus weißen langen Unterhosen, Ringelsocken, einem blauen Rock mit aufgenähten Stoffkaros, einer roten Schürze, einem kariertem Hemd, einem Halstuch, Strohschuhen und Holzmaske. Die Kinder tragen aber noch Masken aus einem harten Pappmaché, denn die schwere Holz-Version gibt es erst ab 16 Jahren.
Während sie sich gegenseitig beim Binden der Schürze helfen, wird besonders darauf geachtet, dass alles ordentlich sitzt. „Ich liebe es, Plaketten zu sammeln und zu tauschen!“, sagt Lia stolz. Sie betrachtet die Sammlung auf ihrem Halstuch und ihrem Hemd.

Auf dem Hebelplatz ist die Stimmung ausgelassen. Die ersten Fasnachtsgruppen aus anderen Orten trudeln ein, laute Schlagermusik tönt aus den Boxen. Kurz nach 11 Uhr ist die gesamte Familie vor Ort.
Wer neu ist, muss sich erst einmal bewähren
Die Heilsberghexen wurden 1956 gegründet. Vorsitzender Johannes Spitznagel erklärt: „Wir haben aktuell 116 aktive Mitglieder, 18 Kinderhexen und acht Probehexen.“ Dabei tragen neue Mitglieder zunächst eine graue Kutte, bevor sie sich das volle Häs samt Maske verdient haben, verrät er weiter. Das Vereinsleben sei sehr familiär geprägt.

Die Zeit bis 13.30 Uhr vergeht wie im Flug, dann versammeln sich eine halbe Stunde vor Umzugsbeginn die Gruppen am Bahnhof. Ein Meer aus Farben, lauter Musik, fröhliche Gesichter. Überall lachen, rufen, umarmen sich Menschen. Lia und Mylo befüllen ihre Taschen mit Konfetti aus dem Hexenwagen, eine Kiste mit Süßigkeiten wird bereitgestellt. Die Kinder füllen ihre Vorräte für den Umzug auf. „Ich habe sogar meine Lieblingssüßigkeit, den Pfeiff-Lolli, bekommen“, freut sich Lia.

Kinderhexe Steffi, die sich während des Umzugs um die Kinder kümmert, probt mit ihnen nochmals die Pyramide, damit jeder seine Position während des Umzugs genau kennt. Diese besteht aus drei Ebenen: Vier Kinder knien unten, darauf kommen drei weitere und ganz oben sitzen zwei der Kleinsten auf den Schultern.

Dann tritt Vorsitzender Johannes Spitznagel auf den höchsten Punkt des Hexenwagens. Luca und Lia reichen ihm die Tafel mit der Startnummer. „Heute sind wir die Nummer drei, aber im Herzen die Nummer eins!“, ruft er. Der traditionelle Schlachtruf erklingt: „Heilsberg – Hexee!“ – „Heilsberg – Hexee!“

Papa Dejan nimmt seinen Platz auf dem Holder ein. Während Lia und Mylo vor dem Wagen laufen, ist Luca hinter dem Wagen positioniert. Mama Nadine ist mit einer anderen Hexe im Hexenwagen und sorgt dafür, dass die Menschen mit Konfetti eingeseift werden. „Einer stopft oben, der andere unten ins Oberteil“, erklärt sie lachend.
Hexentanz durch Gottmadingen
Kaum setzt sich der Zug in Bewegung, lassen die Masken die Gesichter verschwinden. Roter Rauch umhüllt den Hexenwagen, es riecht nach Schwefel. Ein Hexenkessel und ein kleiner Holzwagen voller Konfetti folgen, während die Familie sich in ihre Rollen versetzt. „Wenn ein Kind Angst hat, nehme ich die Maske ab, damit es sieht, dass ich auch nur ein Mensch bin“, erzählt Lia.

Luca hüpft während des Umzugs mehrfach auf den hinteren Teil des Holders und winkt in die Menge. Die Menschen an der Straße rufen ihm zu, winken zurück. Luca rennt, immer weiter, und bringt die Leute vom Straßenrand in den Hexenwagen. „Lucaa, nein!“, ruft es immer wieder, wenn seine Freunde ihn erkennen.

Nach etwa 45 Minuten ist der Umzug vorbei. Als sie an der evangelischen Kirche angekommen sind, heißt es für alle: Maske abnehmen und tief durchatmen.