Hier ein Klingeln, da ein Nicken, dort ein namentlicher Gruß. Je näher Jury Martin, gebürtiger Konstanzer mit stadtbekanntem Namen und „echter Paradiesler“, seinem Wohngebiet kommt, desto öfter grüßen ihn die Bürger. „Die eine Hälfte tut‘s, die andere Hälfte nicht“, sagt er dazu und muss lachen.
Treffpunkt Herosépark ist nicht zufällig
Der erste Treffpunkt bei „120 Minuten mit...“, dem SÜDKURIER-Format zur Vorstellung der OB-Kandidaten, ist zwei Stunden zuvor allerdings nicht im Paradies, sondern an der Bischofsvilla am Herosépark. Das Fortbewegungsmittel der Wahl auf einer Tour zu den Problempunkten der Stadt soll natürlich das Fahrrad sein. Warum? Na, weil Jury Martin mit seinem Fahrrad durch Konstanz fährt. So sei das schon immer.
Er selbst will der unkonventionelle OB-Kandidat sein, der ungewöhnliche Fünfte in der Runde der Bewerber. Nicht zuletzt durch sein Auftreten erfüllt er diesen Grundgedanken, als er am Herosé-Areal eintrifft: gelbes, kurzärmliges Hemd, braune Sandalen und ein großes, durchsichtiges Visier vor dem Gesicht. Sein Erkennungszeichen während des Wahlkampfes in Corona-Zeiten und das Zeichen für Bürger, ihn jederzeit direkt ansprechen zu können. Dazu trägt er um den Hals einen akkubetriebenen Ventilator. Beim hitzigen Wahlkampf ist dieser wohl unerlässlich.
Der Ort des Treffpunkts ist keinesfalls zufällig gewählt. So hält Jury Martin die Problematik am Herosépark für „bezeichnend für das Versagen des amtierenden Oberbürgermeisters Uli Burchard und der gesamten Stadtverwaltung“. Dass er den Amtsinhaber vor acht Jahren gewählt hat, bereut er mittlerweile. Daraus macht er keinen Hehl.
Austausch mit Anwohnern
„So wie es hier läuft, gibt es Probleme ohne Ende“, meint Martin über den Herosépark, der sich im Lauf des Sommers zur Feiermeile entwickelt hat. „So geht es nicht weiter.“ Schnell kommen zwei Anwohner dazu und tauschen sich mit Martin aus. Arnold Faller graut es bereits davor, wenn bald der Toilettenwagen verschwindet. Dann pinkeln noch mehr Menschen überall hin, sagt er.
Martin hat bereits ein Konzept, um die Situation zu entschärfen. Er will ein Jugendzentrum in der Nähe des Areals. Dort sollen Streetworker gemeinsam mit den Jugendlichen an der Situation arbeiten, um die Anwohner zu entlasten. Dazu will er mehr Personal zur Kontrolle des Seerheins einsetzen und, falls nötig, öfter mit der Polizei zusammenarbeiten.
„Wir müssen versuchen, die Bürger mitzunehmen“
Verbote hält Martin dagegen grundsätzlich für falsch. „Wir müssen versuchen, die Leute mitzunehmen“, sagt er. „Nur dann kann man eine zufriedenstellende Lösung für alle finden.“ Da spricht wohl der frühere Projektleiter aus ihm. Leute mitnehmen – nur so kommt man mit Projekten ans Ziel, da ist sich der studierte Raumfahrtingenieur sicher.
Eine weitere pragmatische Lösung wäre, die Hinterlassenschaften der Feiernden wie Flaschen, Dosen, Zigarettenstummel und Pizzakartons nach einem Wochenende einfach mal liegen zu lassen und nicht durch die Konstanzer Entsorgungsbetriebe einsammeln zu lassen. Dadurch würden die jungen Menschen vielleicht rücksichtsvoller werden, hofft Martin.
Mehr Platz für Busse und Fahrräder
Nach dem Gespräch mit den Anwohnern schwingt sich der OB-Kandidat auf den Drahtesel, und auf geht es zur nächsten Problemzone. Die ist schnell erreicht, nur über die Fahrradbrücke und in die dritte Ausfahrt eingebogen, schon steht man an der Laube. Hier will Martin die Verkehrsführung ändern.
Auf einer Seite der vierspurigen Straße will er eine Fahrbahn nur für Busse, daneben für Fahrräder. Auf der anderen Seite sollen die Autos fahren. Der Bus könnte sich so ungehindert fortbewegen. Einen kostenlosen Ringbus um die Altstadt kann sich der OB-Kandidat gut vorstellen.
Die schlechte Arbeit des Amtsinhabers
Von der Laube geht es über den Stephansplatz, laut Martin ein weiteres Beispiel für die schlechte Arbeit der Stadtverwaltung, und schließlich zur Marktstätte. Für ihn ein einziger Flickenteppich, ebenso wie der Bahnhofsvorplatz. „Das C-Konzept war damals der Vorschlag, aber ich sehe nicht, dass irgendetwas gemacht wird“, so Martin. „Damals hat man eine schnelle Übergangslösung benötigt, und das Provisorium existiert bis heute.“
Er will als OB eine Schranke nach dem Parkhaus und eine vor dem Lago errichten und somit den Bahnhofsvorplatz autofrei machen. Außer für Anwohner, Geschäftsleute und Lieferverkehr. Auf der Bodanstraße möchte er ebenfalls eine Busspur einrichten. Über diese geht es am Döbeleparkplatz vorbei ins Paradies, Jury Martins Heimat.
OB-Kandidat besitzt nur ein Wahlplakat
Dort angekommen löst sich das Rätsel, warum keine Wahlplakate mit Martins Konterfei die Straßen der Stadt säumen. Im Gegensatz zu seinen Konkurrenten, die die Bürger im gesamten Stadtgebiet von Straßenlaternen und Pfosten aus grüßen, hat Martin lediglich ein einziges Plakat von sich anfertigen lassen. Er will nicht, dass sein Gesicht überall zu sehen ist. Ganz auf Werbung verzichten möchte er dann allerdings auch nicht. Sein Wahlplakat lächelt Spaziergänger aus Martins Garten heraus an. Der Unkonventionelle eben.
Ein sozialeres und umweltfreundlicheres Konstanz
Auf der Terrasse seines Hauses nimmt er am Ende der 120 Minuten das erste Mal sein Visier für längere Zeit ab. Jetzt ist er Bürger Martin, mit Mietern, die in einer von ihm ausgebauten Scheune leben, und mit einem großen Gemüsegarten. Seine Frau Marianne erntet dort gerade riesige Zucchinis und kleine, rote Tomaten. In dieser Hinsicht eifert Jury Martin seinem Vater nach. Der war einer der ersten Paradiesbewohner, der nach dem Zweiten Weltkrieg im großen Stil Gemüse dort anbaute.
Bei einer Tasse Kaffee lehnt sich Martin auf einer Bank zurück und erzählt, was er im Falle einer Wahl vor hat: umweltfreundliche Turbinen zur Stromerzeugung auf dem Grund des Seerheins, eine große Traglufthalle auf dem heutigen Flugplatz und „endlich echten sozialen Wohnungsbau“. Da fährt ein Konstanzer auf dem Fahrrad am Haus vorbei. Natürlich grüßen Martin und er sich herzlich und winken sich zu. So ist das eben im Paradies, wenn man Jury Martin heißt.