Das Berchengebiet. Hinter dem niedlich klingenden Namen verstecken sich offensichtlich wachsende gesellschaftliche Probleme.
Im Schatten der Hochhäuser hat sich eine neue Jugendszene herauskristallisiert, die in der schlechten, alten Tradition der einst von der Polizei so bezeichneten Berchen-Bande Angst und Schrecken bei Gleichaltrigen und Eltern verbreitet. Wobei die Polizei davon ausgeht, "dass ein einheitlicher Treffpunkt der Gruppe bislang nicht festgestellt werden kann. Der Schwerpunkt ihres Auftretens lag bislang im Bereich Seestraße/Schmugglerbucht und Bodenseeforum, kann jedoch nicht darauf beschränkt werden".
Elf- bis sechzehnjährige Jugendliche treffen sich nach SÜDKURIER-Beobachtungen und Schilderungen von betroffenen Eltern nachmittags am See, auf Spielplätzen, am Skaterpark oder auch in der Cherisy-Kaserne. An und für sich nichts Schlimmes. Doch die Schwelle zu Diebstahl, Körperverletzung, Erpressung und dem Konsum von Alkohol und Drogen wird hier regelmäßig überschritten.

Eine Mutter sagt: So kann es nicht weitergehen
Eine Mutter aus dem Berchengebiet hat sich bereit erklärt, aus dem Leben ihrer Kinder zu erzählen. Sie ist alleinerziehend, arbeitet in Vollzeit und versucht verzweifelt, ihrem Nachwuchs eine gute Perspektive zu bieten. Sie möchte anonym bleiben, da sie Angst hat vor der Reaktion, wenn sie erkannt wird.
„Meine Kinder müssten das ausbaden. Aber es kann so nicht mehr weitergehen. Man glaubt ja nicht, was da los ist. Und das passiert mitten in Konstanz.“
Das hat was von Berlin, Görlitzer Park oder Frankfurt, Bahnhofstraße. Aber Konstanz?
„Ich gehöre nicht zu den Leuten, die sagen: Bei uns ist es idyllisch-schön, also gibt es bei uns keine Probleme.“Andreas Mathy, Sprecher der Staatsanwaltschaft

Die Gruppe 467
467 nennt sich der lose Zusammenschluss der jungen Menschen, der erst seit einigen Monaten existiert. Die letzten drei Ziffern der Postleitzahl der Stadteile Fürstenberg, Petershausen, Industriegebiet und Wollmatingen.
Sie finden das cool. Ihr Vorbild ist die 0711 Squad aus Stuttgart, eine Gruppierung von Fußball-Ultras.
Die Kinder der alleinerziehenden Mutter, die sich dem SÜDKURIER anvertraut hat, hängen ebenfalls regelmäßig mit 467 ab. Es existieren sogar Aufnahmerituale: Die jungen Menschen halten die Zugehörigkeit zu 467 schriftlich fest. Da fallen dann Worte wie Ehre, Blut und Treue.
Die Mutter erzählt dem SÜDKURIER von der kindlich gestalteten Urkunde, die die Mitgliedschaft bestätigt.
„Die sind alle total stolz, wenn sie als Gruppe gesehen werden. Die machen nur Schwachsinn. Sie klauen, kiffen, saufen.“

Eines Tages kam eines ihrer Kinder mit einem Kieferbruch nach Hause. Immer mal wieder werden sie von der Polizei gebracht, nachdem sie beim Diebstahl erwischt wurden – und die Mutter 100 Euro Strafe zahlen muss.
„Sie entgleiten mir. Wir als Eltern dürfen nicht tatenlos zuschauen.“
Sie will nicht verstehen, dass 14-Jährige bis 22 Uhr und 16-Jährige bis 24 Uhr allein auf der Straße sein dürfen. "Was machen die da draußen um diese Uhrzeit? Was gibt es da noch Anständiges zu tun? Gar nichts. In diesem Alter gehören sie in ihr Zimmer, nicht auf die Straße."
Ihre Kinder haben die klare Anweisung: Bis 20 Uhr müssen sie daheim sein. "Und wenn das mal nicht der Fall ist, dann suche ich sie, bis ich sie gefunden habe. Das kostet mich unendlich Nerven und Kraft. Aber für meine Kinder würde ich alles machen".
Wenn sie ihre Kinder dann antrifft, "werde ich von anderen Kids beschimpft, die machen sich über mich lustig", berichtet sie. "Aber wieso halten nicht alle Eltern zusammen? Dann könnten wir das verhindern."
"Jugendamt und Polizei sind meine Helden"
Im Wohnzimmer der Mutter finden regelmäßig Partys statt. "Hier kann ich sie wenigstens beobachten", sagt sie. Doch das artet oft aus. "Sie haben schon meinen Teppich verbrannt und hinterher hat alles nach Rauch und Alkohol gestunken."
Der Kampf um die Zukunft der Kinder zermürbt sie. "Ich bin psychisch am Ende." Mehrmals in dem Gespräch mit dem SÜDKURIER laufen ihr Tränen über die Wangen.
„Eltern lassen sich scheiden, Deutsch-Rapper ruinieren die deutsche Sprache und unserem Nachwuchs fehlen Idole und Vorbilder.“
Doch sie hat auch gute Nachrichten: "Das Jugendamt und die Polizei sind meine Helden, die mich unterstützen und alles dafür tun, dass unsere Kinder nicht verloren gehen." Eine andere alleinerziehende Mutter aus dem Berchengebiet berichtet dem SÜDKURIER ebenfalls von den Zuständen. „Die Stadt sagt doch immer, hier sei alles ganz toll, seit sie Spielplätze und Skaterparks aufgestellt hat“, sagt sie, „aber was hier wirklich abgeht, wird verschwiegen, dabei kann sich jeder davon überzeugen. Einfach vorbeikommen.“
Das Sozial- und Jugendamt kommt zu einer anderen Einschätzung. Das Berchengebiet sei kein sozialer Brennpunkt. Durch das Programm „Soziale Stadt“ seien Verbesserungen erzielt worden. Der Jugendtreff erreiche viele Kinder und Jugendliche und habe zur Verbesserung beigetragen. Die Stadtverwaltung spricht zwar "von einem Quartier mit höherem Entwicklungsbedarf als andere Quartiere im sozialen, ökonomischen Bereich". Aus Sicht des Sozial- und Jugendamts wechseln die Akteure der Gruppierung 467, und ein ausschließlicher Bezug zum Berchengebiet bestehe nicht.
Alles nur halb so schlimm also? Die Konstanzer Mutter lässt sich davon nicht beruhigen.
„Derzeit braut sich einiges zusammen. Meinen kleinen Kindern wurde Gewalt angedroht, wenn sie nicht verschwinden. In unserer Straße werden Drogen verkauft. Das sind Fakten. Das kann man nicht wegdiskutieren.“
So schätzen Polizei und Jugendamt die Jugendkriminalität in Konstanz ein
Sozial- und Jugendamt sowie Polizeipräsidium nehmen nach Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft auf Anfrage des SÜDKURIER Stellung zur neuen Jugendkriminalität in Konstanz.
Laut Berichten existiert eine Gruppierung mit dem Namen „467“. Ist das wahr? Wenn ja, wie alt sind die „Mitglieder“ und mit was fallen sie auf?
Polizei: Uns ist bekannt, dass es in Konstanz eine Gruppierung gibt, die sich, angelehnt an die Konstanzer Postleitzahl, „467“ nennt. Dieser Gruppe werden rund zwölf bis fünfzehn Personen zugeordnet im Alter zwischen 13 und 15 Jahren und sie soll seit Anfang 2018 existieren. Wesentlich ist dabei, dass die Mitglieder nicht ausschließlich aus dem Berchengebiet, sondern aus dem gesamten Stadtgebiet und den Ortsteilen stammen.
Jugendamt: Im Rahmen unserer Netzwerke sind uns einzelne Gruppierungen in der Stadt bekannt; darunter auch Jugendliche, welche sich als „467er“ bezeichnen und im Stadtgebiet entsprechende Graffitis hinterlassen.
Wie fallen diese Jugendlichen auf?
Polizei: Die Beteiligten fallen mit Beleidigungen, Bedrohungen und Körperverletzungsdelikten auf. Sie suchen häufig grundlos mit zuvor nicht bekannten Personen Streit und treten dabei in der Gruppe auf. Ein „falscher Blick“ reicht als Anlass für eine entsprechende Auseinandersetzung aus. Ein einheitlicher Treffpunkt der Gruppe kann bislang nicht festgestellt werden. Der Schwerpunkt ihres Auftretens lag bislang im Bereich der Seestraße/Schmugglerbucht und im Bereich des Bodenseeforums, kann jedoch nicht darauf beschränkt werden.
Alkohol und Drogen spielen eine nicht unerhebliche Rolle. Das Mitführen von erlaubten Messern ist ein allgemeiner Trend und wird bei Kontrollen immer wieder festgestellt. Sofern es sich um unerlaubte Gegenstände handelt, werden sie einbehalten und entsprechende strafrechtliche Maßnahmen eingeleitet. Bei der zur Rede stehenden Gruppe sind die Körperverletzungsdelikte bislang jedoch ohne den Einsatz eines Messers oder sonstiger Waffen, sondern mit reiner Körpergewalt begangen worden.
Welche Maßnahmen werden getroffen?
Jugendamt: Das Spektrum der Jugendhilfe bis hin zu stationären Hilfen und Heimunterbringung wird ausgeschöpft; freiheits-entziehende Maßnahmen obliegen dem Jugendrichter. Dem Jugendrichter obliegt es, Freiheitsstrafen zur Bewährung auszusetzen mit der Auflage, entsprechende Hilfen des Jugendamtes anzunehmen. Diese rechtlichen Möglichkeiten werden selbstverständlich auch in Konstanz genutzt. In diesen Fällen ist eine enge und gute Kooperation Jugendgericht und Jugendamt wichtig und in Konstanz gegeben.
Die einstige „Berchen-Bande“ ist laut Bewohner nicht mehr auffällig. Ist das korrekt?
Polizei: Einige Mitglieder sind noch in Haft und können deshalb gar nicht auffällig werden. Die polizeilichen Maßnahmen in enger Zusammenarbeit mit den Kooperationspartnern wie Sozialer Dienst, Jugendamt oder Jugendhilfe dürften auch Wirkung entfaltet haben. Außerdem stehen Einzelne unter Bewährung und im Blick der beteiligten Stellen.