"Dort, in diesem Gebäude, war früher einer der zahlreichen Nachtclubs des Viertels".
Mit ausgestrecktem Arm deutet Ruth Frenk in Richtung eines zunächst unscheinbar wirkenden Altbaus, in dem heute ein Geschäft statt Liebe für Jedermann Mode für Betuchte anbietet. Doch bei genauerem Hinsehen offenbart sich auch hier die verruchte Vergangenheit des Viertels an der Grenze: Frauenfiguren aus Metall, die sich lasziv um Stangen winden, zieren noch heute die Fassade des Hauses.
"Früher tippelten hier die Nutten über den Asphalt"
Ruth Frenk, Gesangspädagogin und Konzertsängerin, steht im Konstanzer Stadtteil Stadelhofen – einem Viertel mit bewegter Geschichte, mit zahlreichen Altbauten und versteckten Innenhöfen, mit modernen Neubauten und Dachterrassen.
Seit über 40 Jahren lebt die gebürtige Niederländerin hier. Sie weiß, wie ihr Stadtteil tickt: "Früher", erinnert sich Ruth Frenk, "war Stadelhofen eine schlechte Gegend." Sie meint damit jene Zeit, in der das Quartier als das Konstanzer Rotlichtviertel galt. "Als ich 1974 hier ankam, tippelten noch die Nutten über den Asphalt", erzählt die heute Mitte-70 Jährige unverblümt.
Mittlerweile ist das anders. Denn in den 1970er Jahren machte der Gemeinderat Stadelhofen nach und nach zum Konstanzer Sperrbezirk: linksrheinisch ist Prostitution seither verboten, rechtsrheinisch nur noch an wenigen Orten im Industriegebiet erlaubt. Der Wohnwagenpuff ist schon lange verschwunden, und mit ihm die Pornoläden und Rammelbars. Geblieben aus dieser Zeit ist nur das Striplokal Babalou, das wiederum ausgerechnet an einen Ort der Enthaltsamkeit zog, nämlich in eine ehemalige Kirche.
Stadelhofen hat einen Wandel hinter sich: weg vom Sextourismus, hin zum Einkaufstourismus
Die kleinen Speiselokale, die Lebensmittelgeschäfte, die schnuckeligen Einkaufsläden – auch unter ihnen ist der Wandel die einzige Konstante, wechseln Inhaber und Besitzer: "Das war früher ein Gemüseladen", erklärt Ruth Frenk und blickt ein kleines Geschäft, in dem jetzt kiloweise Muskelaufbaupräparate für Fitness-Jünger in den Regalen stehen.
Die größte Veränderung im Viertel aber vollzog sich woanders: "Vom Dach des Hauses aus, in dem ich wohne, konnte ich früher während des Seenachtfests bis in die Bucht sehen", erzählt Frenk weiter – und deutet auf den Grund, der ihr heute die Sicht dorthin versperrt: ein grauer Klotz, Deutschlands erfolgreichstes Einkaufszentrum, das Lago. "Es ist skandalös, das dieses Gebäude so hoch geworden ist – und uns regelrecht einkesselt", ärgert sich Ruth Frenk.

Mit dem Lago kamen vor einigen Jahren auch die Schweizer Einkaufstouristen nach Stadelhofen – und mit ihnen der Hunger nach immer mehr Parkraum. Doch fragt man die Bürger auf den Straßen des Stadtteils, wird schnell klar: Hier ist das Lago nicht nur Fluch, sondern auch Segen. Denn es kurbelt den Umsatz der Hotels und Restaurants in Stadelhofen an.
Das Viertel ist mehr als das Lago: Hier schlägt das Künstlerherz der Stadt Konstanz
Neben dem Wandel, der sich in den vergangen Jahren in dem Viertel vollzog, gibt es auch die Dinge die bleiben: Auf den ersten Blick sind das die historischen Altbauten und Gebäude der Gründerzeit, alleine 146 der insgesamt 210 Häuser im Quartier wurden vor dem Jahre 1919 errichtet; auf den zweiten Blick sind es die Menschen, von denen in Stadelhofen rund 1800 leben. Menschen wie Ruth Frenk, die über die Zeit hinweg eine Stadelhofener Gemeinschaft geformt haben.

"Hier kennt jeder jeden", sagt Ruth Frenk, grüßt im vorbeigehen einen älteren Mann und bleibt lachend bei einer pinkfarbenen Laterne stehen: "Und daran sieht man, dass in Stadelhofen das Künstlerherz der Stadt schlägt."
Ein Künstler des Viertels hatte vor einiger Zeit in einer Nacht- und Nebelaktion die Laternen der Hüetlinstraße in bunte Farben getaucht. In Blau, Grün, Gelb – und eben auch in Pink. Kunst wird in Stadelhofen aber nicht nur auf der Straße gelebt, sondern ebenso in den vielen kleinen Ateliers des Viertels – oder in Ruth Frenks Gesangsstudio.
Auch der Geschichte entzieht sich das Viertel nicht
Mahnende Kunst gibt es in Stadelhofen auch.
Georg Elser, Kunstschreiner und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, hatte am 8. November 1939 im Münchner Bürgerbräukeller ein Bomben-Attentat auf Adolf Hitler und nahezu die gesamte nationalsozialistische Führungsspitze ausgeführt – ohne Erfolg.
In der Folge war Elser nach Konstanz geflüchtet – wo er schließlich am Kreuzlinger Grenzübergang von Zollbeamten verhaftet wurde. Daran erinnert seit nunmehr zehn Jahren eine Büste des Mannes im Wessenberg-Garten.
Auch dafür steht Stadelhofen.