Die Konstanzer blickten nach dem Auszug der vieltausendköpfigen Zahl der Konzilsteilnehmer aus der Stadt auf das nun vergangene größte Ereignis ihrer Geschichte mit einem lachenden und einem weinenden Auge zurück. Lachend, weil nach all dem Trubel und der drangvollen Enge wieder die Normalität des Alltags einkehrte, weinend, weil die Kassen nicht mehr so klingelten wie zuvor, weil die festlichen Ereignisse, die pompösen Aufzüge und das erhebende Gefühl, der Nabel der abendländischen Welt zu sein, vorbei waren.
Für den König, die Kirchenmänner, die Gelehrten, die Gesandtschaften aus allen Ecken Europas war ein lange dauernder, an Überraschungen reicher Kongress zu Ende gegangen. Es war wohl der erste internationale dieser Größe. Auf ihn hatte man viele Hoffnungen gesetzt: die große Kirchenkrise, das Schisma, zu beenden und zahlreiche andere Probleme der damaligen Zeit zu lösen.
Am 22. April 1418, dreieinhalb Jahre nach der Eröffnung, verkündete Papst Martin V. in der 45. Vollversammlung im Münster das Ende des Konzils und entließ die Teilnehmer nach Hause. Danach erteilte er auf dem oberen Münsterhof allen seinen Segen. König Sigismund mit der Krone auf dem Haupt und dem Reichsapfel in der Hand assistierte ihm dabei. Nicht alle reisten sofort ab. Wer noch Schulden bei seinem Hauswirt und anderen hatte, bekam Frist bis zum 8. Mai, wer den Papst auf seinem Weg nach Rom bis Genf begleiten wollte, sollte Mitte Mai bereit sein.

Das Konzil verleiht Konstanz bis heute Prestige
Auch der König hatte noch einige Geschäfte zu erledigen. Am 8. Mai versöhnte er sich auf dem Obermarkt mit dem von ihm geächteten Herzog Friedrich. Danach verhandelte er mit den Konstanzer Räten, seine Diener auch dann abreisen zu lassen, wenn sie ihre Schulden nicht zahlen konnten. Schließlich erfüllte man ihm die Bitte gegen die Auflage, der Stadt Pfänder von doppeltem Wert zu überlassen.
Es handelte sich um kostbare golddurchwirkte Tücher, die sich jedoch als unverkäuflich erwiesen. Gewissensbisse hatte Sigismund deshalb sicher keine, hatte er doch nicht zu Unrecht darauf verwiesen, wie sehr die Konstanzer von seiner Entscheidung, das Konzil in ihre Stadt zu legen, profitiert hätten. Diese konnten damals freilich nicht ahnen, wie Konstanz mit den Prädikaten Konzilstadt oder Kongressstadt später einmal wuchern würde – zuletzt, im heutigen Eventzeitalter mit einem groß aufgezogenen 600-Jahre-Jubiläum.
Der Papst reiste am 16. Mai ab, der König am 21. Mai. Dafür, dass die Erinnerung an das große Ereignis nicht in päpstlichen Archiven verstaubte, sondern sich im Generationengedächtnis eingenistet hat, ist kein Geschäftemacher verantwortlich. Es ist der vermögende Konstanzer Privatier Ulrich Richenthal, der die großen Spektakel und den Alltag in der Konzilstadt mit seiner Chronik der Nachwelt überlieferte. Zahlreiche Abschriften verbreiteten weithin die Kunde davon und wie gut die Stadt die Mammutaufgabe gemeistert hatte: Stadtmarketing damals.
Wie eine kleine Stadt über Jahre Enormes leistete
Sigismunds Wahl von Konstanz zum Konzilsort Ende 1413 stellte die Verwaltung und die Bürger der Stadt vor riesige Herausforderungen. Wie sollten die sieben- bis achttausend Einwohner es schaffen, die zu erwartenden 20.000 bis 30.000 Teilnehmer unterzubringen, zu ernähren und mit allem Übrigen zu versorgen? Not macht erfinderisch. Man kann nur staunen, mit welchem Mut und Pragmatismus sie sich der Aufgabe stellten. Unkonventionelle und kluge Ratsbeschlüsse sorgten für einen reibungslosen Ablauf. In den Bürgerhäusern rückte man zusammen und vermietete jedes freie Plätzchen, man stellte große Fässer und Zelte als Schlafplätze bereit. Hohe Herrschaften fanden in Klöstern und Patrizierhäusern Unterkunft.
Für die heimischen Handwerker fiel das Monopol
Die Versorgung mit Nahrung klappte ebenfalls problemlos: Mit den großen Lastschiffen konnte man alles Notwendige aus dem weiten Umkreis schnell herbeischaffen. Für die Verarbeitung reichte allerdings die Anzahl der einheimischen Bäcker, Metzger und anderen nicht aus. Deshalb hob man den Zunftzwang auf, der dafür sorgte, dass in einer Stadt nur so viele tätig sein durften, dass jeder sein Auskommen hatte. Handwerker und Kaufleute von auswärts und aus dem Ausland wurden angeworben, um die Lücke zu füllen.
Man rollte ihnen sozusagen den roten Teppich aus: Sie wurden von Zöllen und Mautzahlungen befreit, durften sich in der Stadt niederlassen, sogar das Bürgerrecht erwerben, erhielten Gewerbefreiheit und für die Bankiers und Geldwechsler galt freier Kapitalverkehr. Dies waren die Regeln, wie sie heute für den europäischen Binnenmarkt gelten! Preistreibereien, zu denen es bei der großen Nachfrage kam, schob der Stadtrat einen Riegel vor. Am Ende des Konzils konnten die Konstanzer zu Recht stolz sein auf ihr erfolgreiches Management dieser noch nie da gewesenen Ausnahmesituation.
Der Papst geht zunächst gestärkt aus dem Konzil hervor
Was hat das Konzil erreicht? Was versäumt? Am Ende der Jubiläumsjahre ist es angebracht, aus der Distanz von sechs Jahrhunderten Bilanz zu ziehen. Seine wichtigste Aufgabe, die Kirchenspaltung mit drei konkurrierenden Päpsten und ihren über Europa verstreuten Anhängerschaften zu beenden, hat es erfüllt. Dass es dafür ganze drei Jahre brauchte, lag an deren hartnäckiger Verteidigung ihres Amtes und an den Komplikationen, die durch die Flucht des Konzilpapstes entstanden waren. Mit der Wahl Martins V. war die Kirche wieder geeint.
Aber konnte er das ramponierte Ansehen des Papsttums wieder herstellen? Nach seiner Ankunft in Rom 1420 begann er, der während der langen Abwesenheit der Päpste und der Kurie heruntergekommenen Stadt wieder zu Pracht und Wohlstand zu verhelfen. Es gelang ihm auch, den Kirchenstaat wieder in päpstlichen Besitz zu bringen. Auch begann mit ihm die Wiederherstellung der alten Macht der Päpste, die seine Nachfolger dann zunehmend ausweiteten. Für die Konsolidierung des Papsttums war das ein Erfolg, auf lange Sicht jedoch eine Hypothek. Die Prunksucht und Geldeintreiberei der Renaissancepäpste stieß auf Protest und führte hundert Jahre nach dem Konzil zur Reformation mit neuer Kirchenspaltung. Erst der jetzige Papst praktiziert konsequente persönliche Bescheidenheit.
Auch der Scheiterhaufen bremste die Reformer nicht
Für die Erledigung seiner zweiten wichtigen Aufgabe benötigte das Konzil weniger Zeit. Es galt, die Gefahr einer theologischen Spaltung der Kirche zu verhindern. Sie ging aus von den für ketzerisch gehaltenen Lehren, die Jan Hus von dem schon lange verstorbenen englischen Theologen John Wyclif übernommen hatte. Der Prozess, der gegen ihn deshalb geführt wurde, endete ein gutes halbes Jahr nach Konzilsbeginn mit dem Ketzerurteil gegen Hus und seiner Verbrennung auf dem Scheiterhaufen am 6. Juli 1415. Gleiches geschah mit seinem Freund Hieronymus von Prag knapp ein Jahr später. Es war ein Verfahren nach damals üblicher Art, aus heutiger Sicht weder von Humanität noch von Weitblick geprägt, denn es versagte als Mittel zur Verhinderung kirchlicher Opposition schon beim nächsten Kritiker und Reformator, Martin Luther.
Justizopfer Jan Hus: Seine Anhänger geben nicht auf
Das grausame Ende von Hus verschärfte die Spannungen in Böhmen mit Nachwirkungen auf das deutsch-tschechische Verhältnis bis in die jüngste Geschichte. Die Hussiten, die 1420 die Stadt Tabor als ein Zentrum ihrer Bewegung gründeten, führten erbitterten Krieg gegen Sigismund, den deutschen König. Er war 1419 auch böhmischer König geworden und die Hussiten lasteten ihm an, beim Konzil Hus‘ Tod nicht verhindert zu haben. Zuvor hatten einige von ihnen das Neustädter Rathaus in Prag gestürmt, um dort gefangene Glaubensgenossen zu befreien, und beim ersten Prager Fenstersturz zehn Stadtobere aus dem Fenster geworfen. Böhmens König Wenzel starb bald danach aus Aufregung über die Tat, der böhmische Thron wurde frei für seinen Halbbruder Sigismund. Später setzte sich der Konfessions- und Nationalitätenstreit unter den Habsburgern fort und führte nach dem zweiten Prager Fenstersturz 1618 zum Dreißigjährigen Krieg mit seinen verheerenden Folgen.
Die Reform der Kirche war gut gemeint, klappte aber nicht
Für die Befassung mit der dritten und sicher schwierigsten Aufgabe, der grundlegenden Reform der Kirche, fehlte dem Konzil nach mehr als dreijähriger Dauer die Kraft. Sie reichte gerade noch für einige Reförmchen von geringer Bedeutung. Aber waren denn die von ihm bereits beschlossenen Dekrete nicht schon Reform genug? Sie liefen darauf hinaus, die Kirchenverfassung fundamental zu verändern. Mit dem Dekret „Haec sancta“ von 1415 erklärte das Konzil sich selbst zur obersten Instanz der Kirche mit der ausdrücklichen Bestimmung, auch ein Papst müsse sich ihm unterordnen.
Und das 1417 kurz vor der Papstwahl beschlossene Dekret „Frequens“ sah vor, dass Konzilien zukünftig im Abstand von zehn Jahren stattfinden müssen, um keinen Reformstau aufkommen zu lassen. Demnach hätten Konzilien als Kirchenparlamente regelmäßig über wichtige Weichenstellungen beraten und entschieden. Durch den Zehnjahresautomatismus wäre ihre Einberufung nicht mehr dem Gutdünken eines Papstes überlassen geblieben.
Von konservativer katholischer Seite wird mit Verweis auf die nicht eindeutige Formulierung eingewendet, „Haec sancta“ habe nur für den in Konstanz nach der Flucht des Papstes eingetretenen Notfall eines führungslosen Konzils gegolten, nach der Wahl des neuen Papstes sei es hinfällig geworden. Martin V. sah es offenbar ebenso und ignorierte es, er befolgte jedoch das Dekret „Frequens“. Die nachfolgenden Päpste hielten sich nicht mehr daran. Für sie war brisant, dass es ihre Macht in einem entscheidenden Punkt schwächte.
Konstanz wird Ort der Begegnung
Abseits der Debatten über die kirchlichen Themen war das Konzil, war Konstanz ein Ort der Völkerbegegnung und –verständigung. 17 Sprachen habe man hier hören können. Menschen, die man sonst kaum je zu Gesicht bekommen hätte, hielten sich hier auf, man lernte ihre Mentalitäten, Gewohnheiten und Bräuche kennen. Die Gelehrten tauschten sich über die kulturellen Entwicklungen in ihren Herkunftsländern aus, mit fruchtbaren Folgen: Die Italiener machten die übrigen mit Dantes „Divina Comedia“ bekannt, die im Humanisten im Gefolge des Papstes fanden hier in Klosterbibliotheken Abschriften von verschollenen Werken antiker römischer Schriftsteller. Sie vermittelten ihnen neue Einblicke in deren Kultur und beflügelten ihr eigenes Denken, was die Renaissance weiteren Auftrieb gab.
Bis heute bleibt ein Doppelgesicht
Von der Veränderung der politischen Landkarte nach der Ächtung Herzog Friedrichs von Österreich durch Sigismund wegen Fluchthilfe für den Papst profitierten vor allem die Eidgenossen. Sie hatten den Aargau, das habsburgische Stammland besetzt, nachdem der König die vorderösterreichischen Ländereien Friedrichs Anderen zur Aneignung freigegeben hatte. Damit hatte sich das Schweizer Territorium bedeutend vergrößert und reichte nun bis an den Hochrhein.
Zusammenfassend kann man festhalten: In der Rückschau war das Konstanzer Konzil in mehrfacher Hinsicht ein außergewöhnliches Ereignis an einer markanten Zeitenwende, derjenigen vom Mittelalter zur Neuzeit. Daher rührt sein Doppelgesicht: Manche seiner Entscheidungen erscheinen rückwärts gewandt, andere zeigen eine erstaunlich fortschrittliche Tendenz. Bis heute scheiden sich die Geister an ihm: Was die einen als Erfolg verbuchten, sorgte für Enttäuschung und Ablehnung bei anderen. Das Konzil hat jedenfalls Spuren in der Geschichte Europas hinterlassen, die sein Ende lange überdauert haben.
Dieser SÜDKURIER-Artikel erschien erstmals im April 2018 und spiegelt den damaligen Stand wieder.