Die Geschichte von Miriam Sutter

Miriam Sutter steht am Bankautomaten und will Geld abheben. So, wie sie es immer getan hat. Doch plötzlich gerät sie unter Druck und in Panik. Das Menü wurde geändert. Miriam Sutter findet sich nicht mehr zurecht. Hinter ihr warten Leute, sie bricht den Vorgang ab.

Dies ist nur eine der Situationen, in die Miriam Sutter (Name geändert) im Alltag immer wieder gerät. Denn die 55-jährige Konstanzerin ist funktionale Analphabetin, so heißt es offiziell. Gemeint ist: Sie hat große Probleme beim Lesen und Schreiben.

Ihren richtigen Namen möchte sie nicht in der Zeitung sehen, auch nicht ihr Gesicht zeigen. Zu groß ist ihre Angst vor noch mehr Ausgrenzung, vor Hohn und blöden Sprüchen.

Denn Analphabetismus ist nach wie vor ein Tabuthema – auch wenn in Konstanz 7600 Menschen davon betroffen sind.

Bundesweit sind es über sieben Millionen Menschen. "Ich offenbare mich sehr selten", sagt die Konstanzerin. Nur ihre Familie hat sie eingeweiht.

„In der Gesellschaft gehört man nicht dazu, wenn man schlecht lesen und schreiben kann. Für viele zählt nur, welchen Beruf du hast und was du verdienst. Deshalb versuche ich, meine Schwierigkeiten zu verbergen. Als ich mich doch mal einem Arzt anvertrauen musste, fragte er mich, ob ich denn gar nichts könne und was mit mir geschehen soll außer Hartz IV. Ich habe mich gefühlt wie der letzte Mensch.“
Miriam Sutter

Immer wieder fließen während des Gesprächs mit dem SÜDKURIER Tränen. Doch Miriam Sutter gibt nicht auf. Seit rund drei Jahren belegt sie Grundbildungskurse an der Volkshochschule in Konstanz. Dort lernt sie die Buchstaben nochmals kennen, erarbeitet sich einzelne Wörter und Silben.

"Abschreiben kann ich inzwischen ganz gut, aber das Lesen fällt mir noch sehr schwer", sagt sie.

Im Alltag hat sie Strategien entwickelt, damit sie nicht auffällt.

So sagt sie zum Beispiel, sie habe ihre Brille vergessen. Und ihr Smartphone liest ihr Handytexte vor, wenn sie es nicht selbst schafft. "Man mogelt sich so durchs Leben", sagt Sutter.

Dass sie Probleme mit den Buchstaben hat, fiel zuerst ihrer Grundschullehrerin auf.

„Meiner Mutter wurde nahe gelegt, mich auf eine Sonderschule zu geben. Da landeten alle, die irgendwie nicht mitkamen. Alle dachten, ich sei einfach dumm.“
Miriam Sutter

Sie wurde sie mit einem Stigma belegt, mit dem die meisten funktionalen Analphabeten kämpfen. Dass das nicht stimmt, zeigte ihr Abschlusszeugnis nach der neunten Klasse. Für ihre Leistungen erhielt Miriam Sutter sogar einen Preis, nur in Deutsch waren ihre Kenntnisse auf dem Niveau der fünften Klasse. Sie bestand ihre Prüfungen, weil ihre Lehrerin viel vorlas und Miriam Sutter sich jede Menge merken konnte. Nachlesen ging ja nicht.

Nach der Schule hatte die Konstanzerin Anstellungen in verschiedenen beruflichen Bereichen, zuletzt als Reinigungskraft. „Ich kann aber nicht ewig putzen und frage mich, wie es weitergeht“, sagt Sutter.

Momentan hängt sie in der Luft, seit drei Monaten wartet sie auf einen Bescheid der Rentenstelle, ob sie wieder an ihrem alten Arbeitsplatz arbeiten kann.

„Die Ämter wissen nicht, wie sie mit uns umgehen sollen. Ich will ja arbeiten. Für die Rente bin ich zu jung, für den Arbeitsmarkt zu alt.“
Miriam Sutter

Miriam Sutter ist dennoch stolz darauf, was sie schon erreicht hat. Auf einer Reise konnte sie vergangenes Jahr zum ersten Mal ein Schild selbst lesen. "Dann schöpfe ich Hoffnung. Aber ich gelange doch immer und immer wieder an Grenzen."

Die Geschichte von Leonardo Brückner

Der 53-jährige Leonardo Brückner (Name geändert) aus Konstanz besuchte ebenfalls eine Sonderschule, als die Lese-/Schreibschwäche bekannt wurde.

„Meine Mutter warf mir vor, ich sei zu faul zum Lernen, aber als sie erkannte, dass ich funktionaler Analphabet bin, half sie mir viel.“
Leonardo Brückner

Die Mutter, ehemalige Lehrerin, starb vor drei Jahren. Nun verlässt er sich auf einen guten Freund und auf seine Freundin, wenn er Hilfe braucht. Der 53-Jährige ist Frührentner, hilft aber als Maler oder Fliesenleger auf dem Bau aus. Das Wort "Lackfarbe" kann er zum Beispiel lesen, muss es aber mühsam buchstabieren.

Auch Brückner kommt im gewohnten Umfeld ganz gut zurecht. Ausflüge allein in die weite Welt sind allerdings nicht möglich.

Die Lehrerin Rotraud Wetzel

Damit sie zumindest ein Stück weit selbstständiger werden, sind Leonardo Brückner und Miriam Sutter bei Rotraud Wetzel im Grundbildungskurs der Volkshochschule. "Ich will mich endlich fühlen wie ein vollwertiger Mensch", begründet Brückner seinen Entschluss.

Rotraud Wetzel bewundert diesen Schritt: "Der Leidensdruck bei betroffenen Menschen ist sehr groß. Es gehört unglaublicher Mut dazu, aktiv Hilfe zu suchen", sagt die pensionierte Sonderschullehrerin.

Die Dozentin führt die Teilnehmer nicht nur in die Welt der Buchstaben ein, sondern gibt nebenbei ganz praktische Lebenshilfe, indem sie Behördenbriefe bearbeitet – oder Leonardo Brückner dabei hilft, das richtige Passwort für sein drahtloses Netzwerk (WLAN) einzugeben. Er hatte Q mit G verwechselt.

Über die Jahre wurde Rotraud Wetzel für ihre Schützlinge zur Vertrauensperson.

„Meine Arbeit gibt mir das Gefühl, einen sinnvollen Beitrag zur Integration in die Gesellschaft zu leisten. Die Tätigkeit macht mir richtig Freude.“
Rotraud Wetzel

Miriam Sutter wischt ihre Tränen weg und sagt: "Das merkt man." Dann lächelt sie, zum ersten Mal bei diesem langen Gespräch.

Funktionaler Analphabetismus: Woher er kommt und was Betroffene tun können