„Du bist in der Mitte, Menschen stehen um dich herum“, sagt Lea Blattner. „Sie legen dir die Hände auf und fangen an zu beten. Sie sprechen in fremden Sprachen, in der Zungensprache, wollen so mit dem Dämon in dir reden, von dem du besessen sein sollst“, erzählt Blattner. Was sie erzählt, klingt surreal. Dabei hat sie all das vor einigen Jahren selbst erlebt.

Die 31-Jährige aus Basel sitzt in einem Singener Café. Zum Kaffeetrinken kommt sie gar nicht, sie erzählt lieber von sich und ihrer Geschichte. An ihrem Handgelenk baumelt ein buntes Festivalbändchen – in den Regenbogenfarben der LGBTQ-Flagge.

Vor einem Jahr legte sie einen Stichtag für ihr Coming-out als lesbische Frau im Kalender fest. Sie dachte sich: „Wenn ich wirklich frei sein will, dann muss ich das öffentlich machen.“ Ihr Vorhaben zog sie durch. Sie outete sich öffentlich auf Social Media und in Schweizer Tageszeitungen. Für die Christin, Schweizer Politikerin und Präsidentin der Jungen EVP Schweiz ein schwieriger Schritt.

Als kleines Mädchen ging sie in die Freikirche

Denn bis sie sich öffentlich so zeigen konnte, war es ein langer Weg. Lea Blattner hatte immer Angst davor. Angst, aufgrund ihrer Sexualität plötzlich allein dazustehen. Lea Blattner wurde in einem Umfeld groß, indem homosexuelle Menschen nicht existierten. Nicht existieren durften.

Mit ihrem älteren Bruder ging sie als junges Mädchen in die Jungschar einer Freikirche. Dort sei ihr schon von klein auf gesagt worden, Blattner sagt „indoktriniert“, dass Homosexualität eine bewusste Entscheidung, eine Sünde sei.

Mit etwa 13 fühlte sie, dass sie Mädchen anziehend findet. Sie wollte Jungs toll finden – aber es klappte nicht. Sie versuchte, ihre Sexualität zu verdrängen. Bis es nicht mehr ging. Mit 19 vertraute sie sich einem Mitarbeiter ihrer Heimatkirche an. Er sagte zu ihr: „Kein Problem, das können wir heilen.“

Lea Blattner freute sich damals über diesen Satz. Da wusste sie noch nicht, was in den kommenden acht Jahren auf sie zukommen würde.

In der Schweiz sind solche Maßnahmen noch erlaubt

Konversionstherapien, also die vermeintliche Heilung von schwulen, lesbischen und transsexuellen Personen, sind in Deutschland seit 2020 gesetzlich verboten. In der Schweiz sind sie offiziell noch erlaubt. 2022 wollten die Kantone Basel-Stadt und Luzern Konversionstherapien mit einer Standesinitiative schweizweit verbieten. Beide Initiativen wurde vom Schweizer Nationalrat und Ständerat abgelehnt.

In der Zwischenzeit wurden einzelne Kantone aktiv. In den Kantonen Neuenburg, Waadt und Wallis sind derartige Maßnahmen bereits verboten. In Zürich, St. Gallen, Bern, Aargau, Fribourg und dem Jura laufen Gesetzgebungsprozesse. Auch der Kanton Schaffhausen reiht sich ein. Anfang Juni 2025 nahm der Schaffhausener Kantonsrat einen Vorstoß an. Nun wird eine Gesetzesvorlage ausgearbeitet.

Im Dezember 2022 hat der Bundesrat eine Motion angenommen, die ein schweizweites Verbot forderte. Dazu hat er einen Bericht angekündigt. Dieser soll die Verbreitung der Konversionsmaßnahmen in der Schweiz untersuchen und die Frage beantworten, ob eine gesetzliche Regelung überhaupt notwendig ist. Ergebnisse der Untersuchung gibt es noch nicht.

Ihr wurden die Dämonen ausgetrieben

„Ich wollte diese Entscheidung für die Sünde nicht treffen“, sagt Lea Blattner. „Ich wollte normal sein.“ Also ging sie zu einem externen „Coach“, wie sie sagt. Mit ihm habe sie angeschaut, woher ihre Homosexualität kommen könnte.

Liegt es an einer potenziell fehlenden Mutterfigur? An einem mutmaßlich schwierigen Verhältnis zum Vater? Hat ihre Familie etwa Erbsünde begangen, die sich auf sie übertragen hat? Oder liegt es doch am Missbrauch in ihrer Kindheit? Hat das Erlebte, den Dämon in sie übertragen?

„Sie wissen alles von dir“

„Privatsphäre gab es nicht mehr. Sie wissen alles von dir“, sagt Lea Blattner. „Denn jedes Geheimnis, das ich hatte, hätte ja potenziell der Grund dafür sein können, dass ich auf Frauen stehe.“ Lea Blattner ging von einem Heilgottesdienst in den nächsten, erzählt sie. Mehrere Male erlebte sie diese Dämonenaustreibungen.

„Du fängst an zu zittern, aber nicht, weil ihre Gebete das auslösen, sondern deine Psyche. Es ist dieser psychische Druck, der auf dir lastet, dass du Schuld bist, wenn nichts passiert. Das Ganze hat keine geistlichen Dimensionen, das hat nur psychische Dimensionen“, erzählt Blattner.

Sie sollte lernen, wie man sich mit Menschen des gleichen Geschlechts verhält. Auch sollte sie lernen, wie man Männer verführt. All das mit diesem unbändigen Druck im Nacken. „Alle waren der Meinung, meine Sexualität könne man heilen“, meint sie. „Sie sagten mir, wenn es nicht funktioniert, dann will ich es nicht genug. Dann glaube ich nicht genug.“

Als letzten Schritt sollte sie sich einen Mann zum Heiraten suchen. Auch das machte sie. Sogar verlobt war Blattner. Aber es ging einfach nicht. Ihre Gefühle gegenüber Frauen änderten sich nicht.

Die Meinungsfreiheit hat ihre Grenzen

Die Zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen BW (Zebra) ist Ansprechpartner für religiöse Gruppierungen, Betroffene, Angehörige, Aussteiger, Ämter und Institutionen, gefördert vom Kultusministerium Baden-Württemberg. Zebra will Menschen unterstützen, die Fragen zu Sekten, esoterischen Angeboten oder Verschwörungstheorien haben.

„Bei Gruppen, die beispielsweise einen hohen Spendendruck aufbauen, eine hohe Sozialkontrolle ausüben und demokratiefeindliche Werte vermitteln, da müssen wir genau hinschauen“, sagt Sarah Pohl, Leiterin von Zebra. Zu diesen demokratiefeindlichen Werten gehören laut Pohl auch homophobe Aussagen. „Jeder darf sich für konservative Familienmodelle entscheiden, aber die Meinungsfreiheit hat klare Grenzen.“

In Deutschland gibt es noch derartige Therapien

Dass es durchaus auch in Deutschland noch Fälle derartiger Therapien gibt, sei ihr aus „Einzelfällen“ bekannt. „Da läuft das noch unter der Hand. Das passiert im zwischenmenschlichen, meist christlichen Rahmen. In bestimmten Kreisen hält sich das“, sagt Pohl.

In diesen Kreisen gebe es eine sogenannte normative soziale Beeinflussung, erklärt sie. „Menschen haben ein großes Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Sie wollen sich anpassen. Das ist typisch menschliches Verhalten. Aber der Schuss kann auch nach hinten losgehen.“

Sarah Pohl ist Diplom-Pädagogin und Heilpraktikerin für Psychotherapie und bei der Zentralen Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen ...
Sarah Pohl ist Diplom-Pädagogin und Heilpraktikerin für Psychotherapie und bei der Zentralen Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen (Zebra) beratend tätig. | Bild: Fricker, Ulrich

Auch Lea Blattner wollte sich in dieses Korsett zwängen. Etwas anderes durfte es nicht geben. Ein anderes Weltbild als das, was ihr, wie sie sagt, indoktriniert wurde, gab es nicht. Ihr seien obszöne Bilder gezeigt worden, von Homosexuellen, die mit der Realität so rein gar nichts zu tun haben.

Klar einzuordnen, welches Verhalten richtig ist und welches nicht, sei in diesen Fällen in ihrer Beratung sehr wichtig, sagt Pohl. Auch, aufzuzeigen, wo die Betroffenen das Christentum leben können, ohne ihre sexuelle Orientierung infrage stellen zu müssen und auf innerkirchliche Ansprechpartner zu verweisen. „Kirche bietet auch andere Strukturen“, sagt Pohl.

Ein generelles Verbot der Konversionstherapien, wie in Deutschland, findet sie wichtig. „Das bringt eine andere Eindeutigkeit und hilft bei einer klaren Einordnung. Ein Verbot ist eine Orientierungshilfe“, sagt Pohl.

Vom alten, weißen Mann zum liebenden Gott

„Wenn einem ständig indoktriniert wird, dass man eine schlechte Christin sei, nicht zu Gott, sondern in die Hölle zur ewigen Verdammnis kommt, dann macht das sehr Angst“, sagt Blattner. „Ich konnte nicht leben, aber ich konnte auch nicht sterben. Das war das Schlimmste.“

Sie wusste, wenn sie weiterleben will, muss sie lernen, das Indoktrinierte zu hinterfragen. Corona war dann ihre Rettung. Alles war stillgelegt, auch ihre Therapien. Blattner wollte wissen: Ist das, was ihr beigebracht wurde, der einzige Weg? Ihr Weg führte sie dann in eine methodistische Kirche. Dieser gehört sie noch immer an.

Auch ihr Bild von Gott habe sich mittlerweile geändert. Früher sei Gott für sie immer ein Richter von oben gewesen. „Gott ist für mich kein alter, weißer Mann mehr. Mein Glaube ist jetzt sehr weit. Vorher war er eng.“

Deutschland erwies der Schweiz einen Bärendienst

Mit dem Verbot von Konversionstherapien habe Deutschland der Schweiz aber einen Bärendienst geleistet, sagt die 31-Jährige. Viele Vereine, die solche Maßnahmen angeboten haben, seien in die Schweiz abgewandert. Deshalb sei ein Verbot in der Schweiz so dringend. Ein Verbot schaffe Sensibilität bei Seelsorgern, bei Betroffenen, in der Öffentlichkeit.

„Die Wenigsten wissen, dass es solche Maßnahmen noch gibt. Die Bevölkerung sieht es wenig, das hat sicherlich Einfluss auf die Politik, die die Dringlichkeit nicht sieht. Die Politik schiebt das Thema auf, weil sie es kann“, kritisiert Blattner. „Aber Konversionstherapien sind Folter. Es war Folter für mich.“

Wie sie ihre eigene politische Tätigkeit bei der EVP (Evangelischen Volkspartei) rechtfertigt, einer Partei, die sich gegen die Ehe für alle und Samenspenden für lesbische Paare ausspricht? „Es tut weh, wenn einem sein Leben abgesprochen wird und es ist nicht einfach“, sagt Blattner. „Aber manchmal muss man unbequem sein, damit sich etwas verändert. Manchmal kann sich von innen heraus etwas ändern.“