Der herzliche Applaus geht in Richtung Krankenhaus. Dort erholt sich gerade Gerlinde Kretschmann von einer Schulter-Operation nach einem Sturz. An ihrer Seite ist ihr Mann Winfried, der Ministerpräsident und wichtigste Vertreter der Grünen in Baden-Württemberg. Deshalb kann er an diesem Abend nicht in Konstanz sein. Und alle, die auf der Bühne stehen, bitten um Beifall als Zeichen der guten Wünsche ans Krankenbett – und nehmen von der Wärme auch ein wenig für sich selbst mit.
Es ist der Abend des Bürgerdialogs, mit dem die Landtagsfraktion der Grünen ihrer nicht-öffentlichen Klausursitzung einen Gegenentwurf vorwegstellen. Es sind Themen-Tische aufgebaut, an denen fachkundige Landtagsmitglieder und die Minister der Grünen für Gespräche auf Augenhöhe bereitstehen. Manfred Lucha ist am Tisch Gesundheit und Soziales, Winfried Hermann natürlich beim Verkehr, Thekla Walker bei Umwelt und Klima, Danyal Bayaz bei den Finanzen.
Überraschungsgast Cem Özdemir wird stürmisch gefeiert
Am größten jedoch ist die Menschentraube um Cem Özdemir, und das liegt nicht nur an den Personenschützern. Der Bundesminister, der neben der Landwirtschaft seit dem Ampel-Aus auch noch das Ressort Bildung und Wissenschaft leitet, ist kurzfristig dazugekommen. Gewissermaßen in der vorgezogenen Nachfolge für Kretschmann, oder, wie Özdemir natürlich sagen würde, als notdürftiger Ersatz. Die Gäste sehen es anders – der designierte Spitzenkandidat der Grünen bei der Landtagswahl 2026 wird stürmisch gefeiert.

Gleich zu Beginn seiner Rede spannt Özdemir den Bogen weit und staatsmännisch. In den USA, der „Herzkammer der Demokratie“, wie auch im nahen Österreich zeige sich, wie wichtig es sei, die Freiheit zu verteidigen. Aber auch Sorgen um die Wirtschaft und den Wohlstand greift er auf, lobt sich selbst für den Durchbruch beim Digitalpakt 2.0 für Deutschlands Schulen und predigt pragmatische Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg: Man dürfe „auch im Wahlkampf nicht vergessen: Der heutige Konkurrent könnte morgen dein Koalitionspartner sein.“
Da ist einer im Wahlkampfmodus, und die knapp 500 Besucher im mit grünen Luftballons geschmückten Konzilsaal lassen sich von Özdemirs Rede so mitreißen, dass die vorigen Beiträge von Fraktionschef Andreas Schwarz und Ministerin Thekla Walker fast untergehen. Özdemir sagt, „keine Parteiinteressen, sondern das Interesse des Landes Baden-Württemberg, ist das einzige, was zählen darf“. Er spricht von der so wichtigen Industrie, von Handwerk, Mittelstand und Unternehmensgründern.
Hier geht es mehr um das große Wir-Gefühl als um grüne Kernpositionen: „Wir sind hier in Baden-Württemberg, wir haben unsere Brandmauer um den Irrsinn“ – jenseits der Barriere wären demnach nicht nur die AfD und andere Rechte in Europa, sondern auch Trump, Musk, Putin und all das andere, was einem so Angst machen kann in diesen Zeiten.
„Wir sind zum Schaffen hier“
Zuversicht und Aufbruchsstimmung versucht auch die örtliche Grünen-Angeordnete Nese Erikli zu verbreiten, als sie auf der Bühne erzählt, wie sie eine millionenschwere Förderung für das Solarforschungsinstitut ISC in Konstanz errungen habe. Baden-Württemberg als „ein Land, das für alle funktioniert“ hatte zuvor auch Fraktionschef Schwarz beschworen, als einen wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstandort mit zuverlässiger Mobilität, bezahlbarer Energie, der „das liberale, freiheitliche, innovative, moderne Land bleibt, das es ist“.
Thekla Walker wiederum verweist angesichts der Konkurrenz auf China auf den Wert von Bildung, Forschung und Entwicklung. Zu tun sei eine Menge – vom Bürokratieabbau bis zur Energiewende. So gelte auch bei der Grünen-Tagung: „Wir sind zum Schaffen hier.“
Auge in Auge mit Regierungsmitgliedern: Wie fanden es die Gäste?
Und dazu gehört an diesem Abend auch, sich viel Zeit zum Zuhören zu nehmen. Nach dem Einstieg verteilen sich die Abgeordneten und Minister im ganzen Saal, über den Stehtischen schweben grün-weiße Schilder von „Verkehr“ bis hin zu „Europa und Internationales“ – die Schwerpunkte sind gesetzt. „Das Format gefällt mir sehr gut, man kann hier seine Meinungen direkt mit den Politikern diskutieren“, sagt Jonas Manz.

Der Konstanzer Student kommt gerade aus der Runde mit dem begehrtesten Gesprächspartner des Abends: Cem Özdemir. Um die Hochschulen sei es gegangen, erzählt Manz, er wünsche sich hier mehr finanzielle Unterstützung vom Land. „Am Anfang war ich noch ein bisschen schüchtern – doch es lohnt sich, die Politiker anzusprechen“, sagt er und zieht direkt weiter zur nächsten Runde mit Finanzminister Bayaz.
Familie Braun ist für den Bürgerdialog aus Hornstaad angereist – ihnen liegt an diesem Abend der ländliche Raum besonders am Herzen. „Da gibt es einfach noch große Defizite, gerade was die Mobilfunknetze und die Digitalisierung betrifft“, sagt Klaus Braun und möchte sich gleich an den passenden Tisch stellen.

Das lockere Format gefalle ihm gut, erzählt sein Sohn Marc Braun, er sei aber vom Einstieg etwas enttäuscht gewesen: „Özdemir hat das zwar schon sehr charismatisch gemacht, die Reden hätten aber inhaltlicher sein können.“ Wie einige Besucher im Saal haben sie an diesem Abend einen Beitrag von Winfried Kretschmann vermisst – auch wenn sie Verständnis für sein Fehlen zeigen.
„Es braucht mehr Unterstützung für Bus und Bahn, das ist aktuell zu teuer und dauert einfach zu lang“, erzählt Studentin Ophelia Maier von ihrem Anliegen. Ihre Schwester Frida beschäftigen vor allem die Erfahrungen aus ihrer Konstanzer Schule: „Wir haben bei uns nur acht funktionierende Tablets, das ist zu wenig.“

Die beiden Geschwister sind von der Veranstaltung angetan, auch die Reden fanden sie spannend. An einem der Stehtische waren sie da noch nicht, doch sie möchten die Gelegenheit gleich nutzen: So einfach und ungezwungen wie an diesem Abend kommt man selten mit der Landespolitik ins Gespräch.