Es ist ein Frühherbst-Nachmittag der leisen Töne. Im aufkommenden Nieselregen stehen etwa 100 Menschen vor einem Haus in der Inselgasse, und wohl die meisten von ihnen kommen ins Nachdenken. Was hätte ich gemacht? Wäre ich mitgeschwommen im Schwarm der Opportunisten und Überzeugten? Oder hätte ich mich dem Unrecht mutig entgegengestellt? Und habe ich eigentlich das Recht, mich auf die Seite von Johann Georg Elser zu stellen, dessen missglücktes Attentat auf Adolf Hitler am 9. November 1939 in Bürgerbräu-Keller in München der Geschichte einen anderen und wohl besseren Lauf gegeben hätte?
Dass sich Menschen mit diesen Fragen beschäftigen, ist an diesem Nachmittag vor allem Tobias Engelsing zu verdanken. Der Direktor der Städtischen Museen hat in einer präzisen und sehr nachdenklichen Rede etwas eingeordnet, über das viele eher mal hinwegsehen. So, wie viele auch zukünftig am Haus Inselgasse 15 achtlos vorbeilaufen werden, ohne einmal den Blick auf die neue Gedenktafel zu richten, die dort jetzt an Georg Elser erinnert. 1925, als der laut Engelsing „eigenwillige Schreiner“ an den Bodensee kam, wohnte er in diesem Gebäude.

Dass Elser 14 Jahre später gerade einmal einen guten Kilometer entfernt an der Schwedenschanze festgenommen, dann ins Konzentrationslager Dachau gebracht und wenige Wochen vor Kriegsende ermordet werden würde, war damals nicht abzusehen. Adolf Hitler persönlich hatte sich den politischen Einzelgänger in der zynischen NS-Logik für einen geplanten Schauprozess aufgehoben und dann schnell beseitigt, als die totale Niederlage unabwendbar war.
Auch daran erinnert Tobias Engelsing bei der Enthüllung des Gedenksteins, den die Crescere-Stiftung am Haus Inselgasse 15 anbringen ließ: Die Propaganda redet den Menschen ein, Elser habe im Auftrag des britischen Geheimdiensts gehandelt – und viele glaubten es. Es mag einer der Gründe sein, warum Elser auch nach dem Krieg eher ein Geächteter als Geachteter war. Erst im 21. Jahrhundert wurde er in die Reihe der anerkannten Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime aufgenommen.
Noch 2009 gab es Protest gegen ein Elser-Denkmal
Seit 2009 erinnert nahe der Stelle seiner Festnahme direkt an der Schweizer Grenze eine Bronzebüste an diesen Georg Elser. Gegen ihre Errichtung gab es damals noch Widerstand in Konstanz: Bei dem missglückten Attentat seien acht Menschen ums Leben gekommen und 50 Menschen verletzt worden. An diese Gewalttat, hieß es auch in Zuschriften an den SÜDKURIER, könne man doch wahrlich nicht voller Anerkennung erinnern.
Auch damals war Tobias Engelsing eine treibende Kraft in diesem besonderen Stück Konstanzer Erinnerungskultur. Wenn er heute über Elser spricht, sind die Gegenwartsbezüge beklemmender. Der Museumsdirektor spricht es so aus: „So wie sich Elser gegen die übermächtige Gewalt seines damaligen totalitären Staates auflehnte, müssen heute die Demokratien und die Demokratinnen und Demokraten der Welt bereit sein, für ihre Freiheit zu kämpfen.“
Denn „die neue Begeisterung für autoritäre Staatsformen greift auch in unserem Land um sich, wie die immer größeren Wahlerfolge der AfD illustrieren: Auch im eigenen Land sind wir also aufgerufen, Widerstand gegen die weitere Erodierung der Demokratie zu leisten und für die freiheitliche Verfassung einzustehen.“
Dieses Ziel verfolgt auch die Crescere-Stiftung, wie die Vorstände Wolfgang Münst und Sebastian Tögel bei der kleinen Feierstunde sagen: „Wir wollen ein Zeichen setzen für eine offene und tolerante Gesellschaft.“ Dafür steht in den Augen der Stiftung – der mittlerweile übrigens genau die Wohnung gehört, in der Elser vor exakt 100 Jahren lebte – auch der der Name Elsers. Erst im Frühjahr hat sie an die Journalistin und Moderatorin Dunja Hayali erstmals eine nach Elser benannte Auszeichnung für Zivilcourage verliehen.
An Hayali erinnert auch Bürgermeister Andreas Osner in seinem Grußwort und erklärt ausdrücklich seine Solidarität: Hayali ist teils menschenverachtender Kritik ausgesetzt, seit sie sich zur Ermordung des rechten US-Aktivisten Charlie Kirk geäußert hat und in der Folge sinnentstellend zitiert wurde. Sich dem Bösen in den Weg zu stellen, wie Elser es wollte, sei wichtiger denn je, so Osner, der auch den Beitrag der Crescere-Stiftung lobt und deren Wirken in der Stadt.
Elser war einer von uns
Tobias Engelsing mahnt unterdessen zur Vorsicht. Eine Vereinnahmung Elsers durch die Nachgeborenen berge auch die Gefahr, „dass wir uns als legitime Enkel seines damaligen Mutes fühlen und auch etwas eitel in seinem Glanz sonnen – auch weil es bekanntlich nichts Ungefährlicheres gibt als den Widerstand gegen die Nazis von gestern.“ Viel mehr Mut brauche es, sich den Rechten von heute in den Weg zu stellen.
So endet die bemerkenswerte Rede des Museumsdirektors dann auch mit diesen Sätzen: „Wenn wir einen Charakterzug von Johann Georg Elser für unsere Zeit in Anspruch nehmen wollen, dann sind das seine Beharrlichkeit und sein Mut, dem Zeitgeist zu widerstehen. Es wird Zeit, dass sich das linksliberale bis wertkonservative Bürgertum aus der Komfortzone eigener Interessenswahrung und aus seiner opportunistischen Neutralität herausbewegt und viel hörbarer als bisher die wehrhafte freiheitliche Demokratie und den Rechtsstaat verteidigt. Ich bin sicher, das würde auch Johann Georg Elser gefallen.“