In Ihrem Buch „Akteneinsicht“ beschreiben Sie Erlebnisse von Frauen, die wegen Gewalt und sexueller Gewalt vor Gericht zogen. In einem Fall kommt ein Vergewaltiger mit einer Bewährungsstrafe davon. Das Gericht hält ihm zugute, dass er mit der Frau eine Beziehung hatte. Das mache die Tat weniger schlimm, als wenn sie von einem Fremden vergewaltigt worden wäre. Außerdem wäre all das nicht passiert, wenn sie sich einen anderen, weniger aggressiven Partner gesucht hätte. Argumentieren Gerichte wirklich so oder ist das aus dramaturgischen Gründen überspitzt?

Leider nein. Das ist Alltag. Im Familiengericht ist häufig von dem sogenannten Auswahlverschulden die Rede. Nach dem Motto: ‚Wenn Sie sich einen anderen Mann gesucht hätten, wäre das nicht passiert.‘ Die juristische Ausbildung ist voll von Klischees, auch die Richterschaft ist davon nicht frei. Wir nennen das Vergewaltigungsmythen. Zum Beispiel, wie sich ein echtes Opfer nach einer Vergewaltigung verhält. Oder es gibt besonders viel Verständnis, wenn ein Täter angeblich dem Opfer intellektuell unterlegen ist und deshalb seine Männlichkeit gekränkt ist.

Die Anwältin Christina Clemm (rechts) vor ihrer Lesung im K9 in Konstanz mit der Gleichstellungsbeauftragten Julika Funk, die sie ...
Die Anwältin Christina Clemm (rechts) vor ihrer Lesung im K9 in Konstanz mit der Gleichstellungsbeauftragten Julika Funk, die sie eingeladen hatte. | Bild: Eva Marie Stegmann

Wie verhält sich denn ein falsches Opfer aus deren Sicht?

Ich hatte eine Mandantin, die bei einem Tinderdate mit in die Wohnung des Mannes ging. Sie berichtete, dass er sie vergewaltigt habe. Vor Gericht wurde sie nach ihrem Dating-Verhalten gefragt. Als sie die Frage stellte ‚Wollen Sie über meine Tinder-Dates vor oder nach der Vergewaltigung Bescheid wissen?‘ – war der Prozess gelaufen. Das Gericht hat ihr die Vergewaltigung nicht geglaubt. Denn, so der Richter, ein echtes Opfer würde nach einer Vergewaltigung keine Treffen mehr über Tinder eingehen.

War Ihr Hauptantrieb für „Akteneinsicht“, das Versagen der Justiz beim Thema Gewalt gegen Frauen offenzulegen?

Nein. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, nicht nur das der Justiz. Gewalt gegen Frauen ist ein Massenphänomen, es ist ein riesiges gesellschaftliches Problem. Ich zum Beispiel kenne keine Frau, die noch nie sexuell belästigt wurde. Das Thema wird öffentlich nicht mehr so bagatellisiert, aber es wird nicht konsequent angegangen. Wir leben unbestreitbar im Patriarchat. Wir haben ein Familienministerium, das einen winzigen Etat im Vergleich zu anderen Ministerien hat.

Wir haben kaum Täterarbeit. Prävention an Schulen ist minimal. Die Polizei ist in diesem Bereich vollkommen überlastet. Das ist auch beim Thema sexueller Kindesmissbrauch so. Interessant ist aber, dass es diesbezüglich jetzt eine unabhängige Stelle bei der Bundesregierung gibt. Historisch ist das darauf zurückzuführen, dass sich erstmals zahlreiche Männer gemeldet haben und von Missbrauch in der Kirche oder im Internat berichteten. Ich finde die Stabstelle sehr gut, würde mir aber ein Äquivalent für das Thema Gewalt gegen Frauen wünschen.

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Ein großer Fortschritt im Kampf gegen Gewalt an Frauen war, dass sexuellen Belästigung 2016 neu ins Strafgesetzbuch aufgenommen wurde. Sie haben mitgeholfen, das Gesetz zu reformieren.

Das ist eine bittersüße Pille. Feministinnen haben viele Jahre für eine Änderung des Sexualstrafrechts gekämpft, erfolglos. Doch dann kam die Kölner Silvesternacht 2015. Dort sollen Männer mit Migrationshintergrund Frauen belästigt haben. Plötzlich und weil das ganze rassistisch konnotiert werden konnte, wollten alle eine rasche Änderung des Sexualstrafrechts. Die Sexualstrafrechtsreform ging dann mit einer Verschärfung der Ausweisungsregelungen einher, was ich ablehne. Wo wir gerade beim Thema Rassismus sind: Frauen mit Migrationshintergrund erleben sexualisierte und rassistische Gewalt nicht selten gleichzeitig. Manchmal erleben sie Gewalt zu Hause und später Rassismus vor Gericht. Auch das ist Thema in meinem Buch. Weil Sie fragten, warum ich ‚Akteneinsicht‘ geschrieben habe: Weil ich den Kämpfen und Schicksalen der Betroffenen Gehör verschaffen will. Wir müssen explizit, das heißt nicht nur in Fallzahlen, darüber sprechen und uns solidarisch zeigen.

Wie kann sich jeder solidarisch zeigen?

Sätze wie ‚Warum bist du auch bei ihm geblieben?‘ oder ‚Warum hattest du so einen kurzen Rock an, wie konntest Du nur mit ihm gehen?‘ sind nicht solidarisch. Und in Film, Fernsehen und Literatur kennt die Vergewaltigung meist nur ein einziges Narrativ: Nämlich, ob man der vergewaltigten Person Glauben schenken kann oder nicht. Um das, was da eigentlich passiert, geht es selten. Das Schlimmste ist, bei Gewalt gegen Frauen wegzuschauen. Wir sollten uns einmischen und Fragen stellen. Gerade wenn wir über Gewalt im sozialen Nahraum sprechen. Da ist es häufig so, dass Menschen im Nachhinein sagen: ‚Ja, das haben wir schon gemerkt, der war immer besonders abwertend seiner Freundin gegenüber oder Ähnliches.‘ Warum wurde das vorher nicht angesprochen? Es gibt viele Tabus, die gebrochen werden müssen. Häufig geht der körperlichen Gewalt eine psychische Gewalt voraus, die mit Erniedrigung zu tun hat. Und da sollte das Umfeld den potenziellen Täter ansprechen: ‚Hey, ich finde gar nicht gut, dass du so mit deiner Freundin umgehst‘ und die Betroffene fragen, ob alles ok ist. Wir alle kennen Opfer, aber keine Täter. Sicher?

Nach der Lesung in Konstanz twitterte Christina Clemm: „Zwei Lesungen in den letzten Tagen. Jeweils 1 männliche Person im ...
Nach der Lesung in Konstanz twitterte Christina Clemm: „Zwei Lesungen in den letzten Tagen. Jeweils 1 männliche Person im Publikum. Dabei ist #GewaltGegenFrauen vorallem ein Problem, das Männer bekämpfen sollten. So viel laute Ignoranz.“ | Bild: Eva Marie Stegmann

Sie sagen, Gewalt gegen Frauen ist nicht zuletzt ein Männerthema. Wie gehen Sie damit um, dass Männer sagen, sie fühlen sich durch dieses Thema einem Generalverdacht als Gewalttäter ausgesetzt?

Es gibt keinen Generalverdacht gegen Männer. Ich kann das nicht mehr hören. Solange es nicht signifikante Männergruppen gibt, die sich dagegen einsetzen, die sagen: ‚Für uns ist das ein Thema‘ – solange haben wir ein Problem. Wie viele Männer haben schon zu mir zum Beispiel nach Lesungen gesagt: ‚Das ist so schrecklich, wenn ich das gewusst hätte.‘ Dann antworte ich: ‚Ja, es ist schrecklich, aber du hättest es seit vielen, vielen Jahren wissen können. Warum tust du nichts dagegen?‘