Um es vorwegzunehmen: Das Gutachten ist in einem Punkt eindeutig: der Ist-Zustand muss geändert werden. Offen ist nun, mit welchen Mitteln. Zur Wahl stehen eine zweite Erdgasleitung von Frauenfeld in der Schweiz nach Konstanz (die bisherige zweigt aus Orsingen-Nenzingen ab) und alternative Energieformen verschiedener Art. Die Experten berechneten mehrere Optionen. Unter anderem wurde dabei die Witterung in Konstanz der vergangenen Jahre untersucht, um daraus künftige Entwicklungen abzuleiten.
Zudem wurde eine erwartbare Minimaltemperatur festgelegt, bei der die maximale Heizlast erreicht wird. Dabei wird immer eine sogenannte kälteste Woche angenommen. Auch für diese kalte Periode muss genügend Heiz-Energie gewährleistet werden. „Zuletzt hatten wir im Jahr 2012 eine sehr kalte Phase, das ist noch nicht so lange her“, sagt Michael Müller, Mitglied der Geschäftsleitung der Stadtwerke Konstanz und Leiter des Bereichs Energienetze.
Britta Kleinertz, Leiterin des Geschäftsfelds Wärme bei der Forschungsgesellschaft aus München, unterstreicht: „Man geht zwar davon aus, dass die Witterung milder wird und weniger Wärme benötigt wird. Doch die kälteste Woche ist und bleibt kalt.“ Für Konstanz muss nach einer entsprechenden Norm die Versorgung auch bei minus elf Grad Celsius gewährleistet werden. „Die Versorgungssicherheit ist ein streng regulierter Bereich“, so Kleinertz.

Konkret bedeutet dies: Die bislang einzige Erdgasleitung hat eine technische Kapazität von 360 Megawatt (MW). Doch in der Praxis kann diese Leistung nicht gesichert erbracht werden. Michael Müller erläutert: „Die Terranets BW als vorgelagerter Lieferant kann uns immer nur 306 MW garantieren. Alles darüber hinaus muss ständig neu geprüft werden. Wir sind aber verpflichtet, zu jedem Zeitpunkt genügen Wärme zu liefern, das ist zu unsicher.“ Benötigt würden laut Berechnungen über 400 MW.
Die Energie-Experten untersuchten nun mögliche Alternativen zu Erdgas, darunter Wärmepumpen, Biogas, lokal erzeugter Wasserstoff oder den Bau einer Flüssiggasanlage (LNG). Die aussichtsreichste Alternative zur zweiten Erdgasleitung ist eine LNG-Anlage. Doch die würde sehr viel Fläche verbrauchen. Auch das vorübergehende Abschalten von Großkunden wie der Universität wurde in die Berechnungen aufgenommen. Das Fazit von Britta Kleinertz: „Viele alternative Lösungsoptionen weisen ein vernachlässigbares Potenzial auf.“
Bei ihren Berechnungen betrachteten die Wissenschaftler zwei Szenarien: Beim ersten wird weiter geheizt wie bisher. In diesem Fall würde auch nach 2030 mehr Erdgas benötigt als die Leitung technisch hergibt. Das zweite Szenario berücksichtigt die Konstanzer Klimaschutzziele. Hierbei sinkt der Erdgasbedarf ab 2030 unterhalb die technisch mögliche Leistung der bestehenden Leitung.
Doch Britta Kleinertz betont: „Gegenüber der gesicherten Leistung von rund 306 MW besteht auch nach 2030 eine Deckungslücke, selbst wenn ein realistischer, aber ambitionierter Klimaschutzpfad befolgt wird.“ Deshalb müssten schon in diesem Winter Vorkehrungen getroffen werden.
Vororte könnten kalt werden
Klimaschützer bemängeln: Für die Versorgungssicherheit sei es sinnvoller, in einem extremen Winter Großverbraucher einige Tage nicht zu beheizen als Millionen von Euro in eine neue Pipeline zu investieren. Aber laut Gutachten reicht auch das nicht aus. Selbst nach dem Abschalten von Großkunden wie der Uni kann der Druck in der Gasleitung weiter fallen, wenn es zu kalt ist. Michael Müller erläutert: „Dann schalten zuerst die Heizungen in den Konstanzer Vororten alle ab, Tausende sitzen in kalten Wohnungen.“
Die Heizungen könnten auch nicht am nächsten Tag durch Erhöhen des Drucks einfach wieder in Gang gebracht werden. „Die Anlagen müssen alle per Hand wieder ans Netz genommen werden und das kann wochenlang dauern“, so Müller. Im kalten Jahr 2012 seien Bürgermeister durch ihre Gemeinden gefahren und hätten die Bürger aufgefordert, die Heizungen herunterzudrehen. „Aber wer macht das bei minus elf Grad Celsius?“, fragt Müller.
Doch Umweltschützer sehen das anders. So sagt Liv Friedrichs von der Umwelt- und Klimaschutzbewegung Extinction Rebellion: „Wir fordern die Stadtwerke Konstanz auf, die Planung der zweiten Gasleitung und die Werbung für Erdgas sofort zu stoppen. Wir brauchen die Stadtwerke, um die dringend nötige Energie- und Wärmewende voranzutreiben und nicht, um die knappe Zeit mit unnötigen Erdgasgeschäften zu verbummeln.“
Den Vorwurf, dass die Stadtwerke eine zweite Erdgasleitung wollen, um noch mehr Gas zu verkaufen, lässt Stadtwerke-Geschäftsführer Norbert Reuter nicht gelten. „Jede verbrauchte Einheit an Kohle und Erdgas ist zu viel, aber wir sind in der gesetzlichen Versorgungspflicht. Beide Optionen, eine neue Gasleitung oder eine LNG-Anlage, begeistern uns nicht. Das ist für uns auch nicht bequem.“ Im Januar soll die Entscheidung fallen.