Würde gerade kein Krieg in der Ukraine herrschen, so stünde Lina Kurchenko im Vorlesungssaal der Kiewer Nationalen Wirtschaftsuniversität. Dort lehrte und forschte sie bis vor Kriegsbeginn als Dozentin am Lehrstuhl für Deutsch an der Fakultät für Internationale Wirtschaft und Management.
Heute sitzt die Ukrainerin über 2000 Kilometer entfernt von ihrer Heimat in einem Büro der Universität Konstanz und geht hier ihrer wissenschaftlichen Arbeit nach. Der Krieg habe auch sie, wie so viele Ukrainer, zur Flucht gezwungen, erzählt Kurchenko.

Anfang März ist sie mit ihren beiden erwachsenen Töchtern Valeria und Lada sowie Hund Toni in Konstanz angekommen. „Da ich eine Frau bin und zwei Töchter habe, war mir das zu gefährlich, zu Hause zu bleiben“, sagt sie. Mehrere Tage und Zwischenstopps, unter anderem in Lwiw, Warschau und Berlin, habe es gebraucht, bis sie es endlich an den Bodensee geschafft hätten.
Das Leben wie sie es einst kannten, gebe es in der Ukraine nicht mehr. „Von heute auf morgen hat sich alles verändert. Die zivile Bevölkerung wird massenweise vernichtet und die menschlichen Gesetze gelten nicht mehr. Es ist eine schreckliche Situation“, berichtet Kurchenko. Stattdessen herrsche Gewalt, in den besetzten Gebieten komme es zu Vergewaltigungen, während keinerlei Sicherheit mehr zu spüren sei.
Kurchenko: „Wir fühlen uns hier in Sicherheit“
Die endgültige Entscheidung, zu fliehen und nach Deutschland zu kommen, traf sie mit der Unterstützung ihrer Kollegen von der Uni Konstanz. Diese unterhält eine seit 30 Jahren bestehende Partnerschaft mit der Kiewer Nationalen Wirtschaftsuniversität. „In den ersten Tagen des Krieges haben uns die deutschen Kolleginnen sofort unterstützt und uns eingeladen, nach Deutschland zukommen“, so die Ukrainerin.
Seit 2018 arbeitet sie als Koordinatorin eines Projektteams mit dem Referat für Gleichstellung, Familienförderung und Diversity der Uni Konstanz zusammen. Mit gemeinsamen Projekten unterstütze das Referat die Kiewer Uni dabei, universitäre Gleichstellungsstrukturen zu schaffen sowie Wissenschaftlerinnen für Führungspositionen zu fördern, erklärt Marion Woelki, Leiterin des Referats.

Untergekommen sei die Dozentin mit ihren Töchtern und Hund Toni in einer Wohnung in der Altstadt, die die Kollegen der Uni für sie organisiert haben. Die Wohnungseigentümer hätten sie herzlich in Empfang genommen und sofort mit dem Notwendigsten versorgt. Auch von den Nachbarn erhielten sie ein Willkommensgeschenk. „Alle sind sehr gastfreundlich und nett. Diese Unterstützung wissen wir sehr hoch zu schätzen. Wir fühlen uns hier in Sicherheit“, sagt Lina Kurchenko.
Woelki: „Sie kann eine Brückenbauerin werden“
Der Schock angesichts des Krieges habe ihre Töchter und sie dennoch nicht sofort verlassen, nachdem sie in Deutschland angekommen sind. In den ersten Tagen in Konstanz mussten sie sich erst einmal an ihr neues Leben ohne Kriegsgeschehen gewöhnen. Bei jedem plötzlichen Geräusch in der Wohnung seien sie zusammengezuckt, da es sich für sie im ersten Moment wie ein Beben einer Rakete anfühlte. „Mit den Gedanken sind wir immer in der Ukraine.“
Aktuell würden sich Kurchenko und ihre Töchter darauf einstellen, für eine längere Zeit am Bodensee zu bleiben. Die Wissenschaftlerin schaut sich nach einer festen Beschäftigung um. Mit ihren Sprachkenntnissen, die Ukrainisch, Deutsch und Englisch umfassen, könnte sie sich vorstellen, Geflüchteten Deutschunterricht zu geben und zwischen beiden Seiten zu vermitteln. „Sie kann eine Brückenbauerin für Deutschland und die Ukraine werden“, sagt Kollegin Marion Woelki.
Die Uni rechne damit, dass weitere ukrainische Studenten und Wissenschaftler, wie Lina Kurchenko, nach Konstanz kommen, sagt Agnieszka Vojta. Einige seien mittlerweile angekommen. Sie koordiniert die Austauschprogramme für Osteuropa sowie die Hilfsaktion, die die Uni ins Leben gerufen hat. Da Konstanz eine weitere Partnerschaft mit der Taras-Shevchenko-Universität Kiew pflegt, sehe sich die Uni in einer besonderen Verantwortung, so Vojta. Über die Jahre hätten sich Freundschaften auf verschiedenen Ebenen gebildet.
Vojta: „Alle Fachbereiche und Einrichtungen ziehen mit“
Mit Hilfe einer Spendenaktion der Uni sollen zum einen Stipendien von ukrainischen Studenten verlängert werden, die aktuell an der Uni Konstanz sind, aber wegen des Krieges nicht in ihre Heimat zurück können. Zum anderen möchte die Uni Studenten und Wissenschaftler unterstützen, die auf der Flucht sind. Viele seien derzeit noch in Polen und anderen Ländern, sagt Agnieszka Vojta. Ihnen soll ebenfalls auf schnellem Wege geholfen werden, beispielsweise mit Orientierungssemestern oder Forschungsaufenthalten.

„Normalerweise gibt es eine ganze Palette an Zugangsregelungen. Diese wurden aber gelockert, damit alles unbürokratischer ablaufen kann. Alle Fachbereiche und Einrichtungen ziehen mit“, so Vojta. Die Uni versuche mit allen Mitteln zu helfen. Eine der größten Herausforderungen wird die Unterbringung der geflüchteten Studenten und Wissenschaftler sein. Man hoffe hier deshalb auch auf die Hilfe der Bürger und der Stadt.